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Deutsche Erstaufführung

Anti-Antisemitismus

DIE ROTE FÄRSE - grotesk-lyrische Oper in einem Akt von Iván Fischer


Das ist Jonatán Kovács als Móric Scharf in Iván Fischers grotesk-lyrischer Oper Die Rote Färse - Foto (C) Eszter Gordon

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Imre Kertész (84) schrieb den Roman eines Schicksallosen, der im Jahre 1975 in Ungarn erschien und dort sehr lange totgeschwiegen worden war. Sein Thema: Auschwitz, Buchenwald. "Ist es der unschuldige Ton des jüdischen Jungen, der seine Deportation als Aufbruch ins Unbekannte und die Ankunft in Auschwitz als groteskes Spektakel erzählt? Liegt das Befremdende darin, dass er so bereitwillig die Logik der Lager erprobt - ein verständiger Schüler, der seine Sache möglichst gut machen will? Oder sind es die schockierenden Antworten auf die Fragen eines Journalisten, den er nach seiner Rückkehr in Budapest trifft - Fragen, die auch wir dem Überlebenden gestellt hätten?" sucht der Klappentext der Büchergilde Gutenberg das so vermeintlich für die Ungarn Anstößige dieses Buches - wofür Kertész letztlich in 2002 den Literaturnobelpreis verliehen bekam - vorsichtig auszuloten. Einen Deut komplexer sah und sieht sich Péter Nádas (62) der Gesamtthematik resp. jenes Phänomens des seit Jahrhunderten weltweit verbreiteten oder vielleicht sogar "geläufig-anwesenden" Antisemitismus inkl. seiner Folgen (der Gewalt, des Terrors, des Vernichtungswillens) stark verpflichtet; seine Parallelgeschichten packen "es" anhand von leisen, scheinbar nebensächlichen und also beinah unscheinbar daherkommenden einzelnen (Privat-)Geschichten, deren undidaktisch, kommentarlos auf uns Leser einwirkende Aneinanderreihung diese Gänsehaut und dieses völlige Ergriffen- und Bedrücktwerden erzeugt und derart zur Katharsis führt...

* * *

Dass es auch eine Zeit weit vor dem Holocaust gegeben hatte, wo z.B. "in dem ungarischen Teilstaat der Doppelmonarchie 600.000 Juden, die im Sinne des Emanzipationsgesetzes von 1867 als gleichrangige Bürger galten" (György Dalos), wollte nunmehr Iván Fischer - Dirigent von Weltrang - leicht und freundlich in Erinnerung gebracht haben; "Mehr als die Hälfte [der o.g. 600.000 Juden, A.S.] betrachtete Ungarisch als Muttersprache und neigte bei allen konfessionellen Bindungen dem liberalen Zeitgeist entsprechend zu einer möglichst schnellen und erfolgreichen Assimilation. (...) Gleichzeitig brach 1881 in der benachbarten Ukraine eine von den zaristischen Behörden zumindest geduldete Progromwelle aus, vor der wiederum die dort beheimateten Juden hauptsächlich in die österreichisch-ungarische Monarchie und nach Deutschland flüchteten. / In den ungarischen Dörfern löste das Erscheinen der bettelarmen, jiddisch sprechenden, frommen Juden soziale und kulturelle Spannungen aus, während in der Hauptstadt der politische Antisemitismus voll aufblühte." (G. Dalos | Quelle: Programmheft Konzerthaus Berlin)

Die Rote Färse (Iván Fischers gestern Abend im Werner-Otto-Saal des Berliner Konzerthauses als deutsche Erstaufführung dargebotene 50minütige Oper, die der Komponist gleichsam als "grotesk" und "lyrisch" auswies) handelt nun von einem "Fall einer Ritualmord-Beschuldigung":

"Das vierzehnjährige christliche Bauernmädchen Eszter Solymosi war aus dem nordungarischen Dorf Tiszaeszlár im April 1881 spurlos verschwunden. Ihre Eltern erstatteten Anzeige gegen ortsansässige Juden und behaupteten, diese hätten die Magd in die Synagoge gelockt und dort ihre Kehle durchgeschnitten, um das Blut den für die Pessachfeier zubereiteten Matzen beizumischen." (G. Dalos)

Das "Tolle" der Geschichte war nun, dass Móric Scharf, ein jüdischer Junge, seinen eigenen Vater und dessen Kameraden jener Schächtungstat beschuldigte. Wahrscheinlich wurde er zu dieser Aussage beeinflusst oder gar erpresst. Auf jeden Fall fand ein Gerichtsverfahren statt; und weil es halt dann keine triftigen Beweise gab, kamen die fälschlich angeklagten Juden wieder frei - aber der (nicht nur ländlich daseiende) Antisemitismus schwelte, schwelt halt weiter fort, er braucht bloß immer wieder so ein kleines Krümchen Nahrung, dass "er" sich in seiner Vorurteilsnahme bestätigt sieht. Das wiederum - könnte man schließen - dürfte für den Fischer in der Tat "grotesk" sein.

Was bewog/bewegt einen Heranwachsenden wohl zu solchem Tun? Dieses v.a. wollte Fischer, als er seine Rote Färse komponierte, "wissen", das (auch) ließ ihn "lyrisch" werden in dem mehr wohl unbeschwerten Stück.




Ein christliches Dorfmädchen (das eigentlich/versehentlich von einer Roten Färse totgetrampelt worden war) galt als verschwunden, und die Juden hätten es entführt und in der Synagoge totgeschächtet - so in ungefähr könnte der Plot von Iván Fischers Oper kurzgeschlossen sein | Foto (C) Eszter Gordon



Aus Texten Gyula Krúdys sowie Lajos Kossuths stellte Fischer das Libretto, angereichert mit Gedichten Lajos Parti Nagys, zusammen. Musikalisch griff er - unserm hörerischen Eindruck nach - mal hier, mal dort hin: Neben schön und schwerelos gebotener Folklore (Fest im Gasthof "Zur Roten Kuh") vernahmen wir z.B. bachpassionsähnliche Rezitate (Krúdys erster, zweiter, dritter Monolog), die halt wie jene sattsam allbekannten Evangelistenpassagen klangen. Oder ein Art moralisierende Erscheinungsszene (Kossuths Monolog), die schon sehr stark an Erdas Prophezeiung aus dem Wagner-Rheingold irgendwie gemahnte. Auch die Glöckchenarie aus Delibes' Lakmé (bei Fischer: Arie der Roten Kuh) vermeinten wir, leicht-variiert oder ironisch-mitgenutzt, herausgehört zu haben... Doch das Alles irritierte oder störte nicht! Nein, es verlieh dem Ganzen eine leichtfüßige Buntheit, die dem ja von Fischer eigentlich bezweckt-Grotesk-Lyrischen völlig angemessen war.

Zum Schluss der Oper (Purifikation) lauschten wir einem unendlich lang andauernden Lokomotivgeräusch (= Besen auf Becken), das mit einem ausgiebigen Klangteppich durch das Orchester korrespondierte - Vater/Sohn saßen in einem stilisierten Zugabteil und fuhren weg; sofort assoziierte man: Deportation! Diese Idee fand gleichwegs und sofortige Bestätigung durch eine plötzlich von ganz hinten auf die Vorderbühne preschende Gruppe junger Männer, welche grölend den zwei "Auswanderern" Angst zu machen aufgetreten waren... Und da stockte Einem schon das Blut.




Während der Gerichtsverhandlung in Die Rote Färse von Iván Fischer - Foto (C) Eszter Gordon



Sehr junge und sehr schöne Menschen spielten, sangen, tanzten Fischers Rote Färse [Besetzung s.u.]. Musiziert wurde durch Mitglieder des Budapest Festival Orchesters und des Berliner Konzerthausorchesters; beide Klangkörper stehen, auch so, unter der künstlerischen Leitung ihres komponierenden Dirigenten. Aus der Riege der etwas erfahreneren Sänger- oder Spielerschar traten besonders Orsolya Sáfár (als Wirtin), József Gyabronka (als Krúdy), János Tóth (als Mann) und Krisztián Cser (als Kossuth) hervor.

*

Dass Iván Fischer auch ein wachsam-aufmerksamer Zeitgenosse ist, belegt ein neulich auf der Amnesty International-Homepage veröffentlichtes Interview mit ihm, worin er sich zu den z.Z. in Ungarn mehr und mehr aufkommenden Rechtslastigkeiten äußerte. Allein schon wegen dieser klaren Position von ihm sollte man eigentlich jetzt "seinen" Rote Färse-Abend - der im ausverkauften Werner-Otto-Saal auf einhelliges Interesse und begeistertes Empfinden stieß - zusätzlich als politisch-motivierte Manifestation zu deklarieren in die Pflicht genommen sein.

Die Botschaft jedenfalls kam an.


Andre Sokolowski - 29. Juni 2014
ID 7932
DIE ROTE FÄRSE (Werner-Otto-Saal, 28.06.2014)
Regie: Tamás Ascher und Kriszta Székely
Bühnenbild: Nóra Patrícia Kovács
Kostüme: Györgyi Szakács
Choreografie: Bertalan Vári
Assistenz: Eszter Balassa
Besetzung: Józzsef Gyabronka (Gyula Krúdy), Jonatán Kovács (Móric), Kyra Varga (Eszter), Zsombor Jéger (Kálmán), György Kozma (Färse), János Tóth (Der Mann), Orsulya Sáfár (Die Rote Kuh - Sopran), József Csapó (Richter - Tenor), Tamás Altorjay (József Scharf - Bass), Sebestyén László Szabó (Buxbaum), Krisztián Cser (Lajos Kossuth - Bass) sowie Schauspielstudenten des 3. Jahrgangs der Universität für Schauspiel- und Filmkunst Budapest (Chor, Tänzer, Jüdische Gefangene, Wachen und Publikum)
Mitglieder des Budapest Festival Orchesters und des Konzerthausorchesters Berlin
Dirigent: Iván Fischer
Uraufführung in Budapest war am 13. Oktober 2013
Berliner Premiere: 28. Juni 2014
Weitere Termine: 29. 6. 2014, 17 + 20 Uhr


Weitere Infos siehe auch: http://www.konzerthaus.de


http://www.andre-sokolowski.de



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