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nachDRUCK # 5

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Konzertkritik

Sensationelle

Berliner

Erstaufführung

von Verdis Oper

Stiffelio



Bewertung:    



Einmalig! Leider nur einmalig… Denn die – man mag es kaum glauben! – Berliner Erstaufführung von Giuseppe Verdis dreiaktiger Oper Stiffelio, die er immerhin 1850 auf ein Libretto Francesco Maria Piaves komponierte, findet keine Wiederholung – leider! Sonst könnte der Schreiber solche mit Vehemenz seiner geneigten Leserschaft zum nächstmöglichen Besuch ans Herz legen, denn dieses Geschenk an die Berliner Kulturszene durch Chor und Orchester der Berliner Operngruppe mit ihren Sologästen geriet unter der Stabführung von Felix Krieger zu einem unvergesslichen Abend des italienischen Melodrammas – am Ort der Uraufführung von Webers Freischütz.


„Einige von jenen meiner Opern, die nicht im Umlauf sind, kann ich getrost vergessen, denn die Stoffwahl war ein Missgriff. Indessen gibt es zwei, die ich nicht gern vergessen sähe: 'Stiffelio' und 'Die Schlacht von Legnano'“, schrieb Verdi 1854, just um aus Stiffelio einen Aroldo zu werkeln...


Worum geht’s? Stiffelio ist ein deutscher Pastor, dessen Ehefrau Lina während seiner Abwesenheit von dem jungen Liebhaber Raffaele vergewaltigt wurde. Diese Entehrung nun entdeckt ihr Vater, der sie für schuldig hält und sie rächen will – auch Stiffelio bleibt nicht ahnungslos, er zwingt Lina zur Scheidung: doch erst Bibelworte bringen ihn zu Einsicht und Gnade. Diese für Oper extrem unkonventionelle Geschichte reizte just Verdis Genie, das Gegenwartsstoffe interessierte, und in der Tat ist Stiffelio sein „gegenwärtigstes“ Opus.

Was aber sollen italienische Opernenthusiasten, entweder Katholiken oder Garbibaldisti, an den Eheproblemen eines deutsch-protestantischen Pfarrers interessant finden, dessen Drama sich am Ende in allgemeines Vergeben und Wohlgefallen auflöst – obendrein brav inmitten eines Gottesdienstes. Die Katholiken werden ihr Priesterzölibat als moralische Alternative bestätigt sehen und die Garibaldisten den Austritt aus der Kirche! Man kann insofern durchaus begreifen, warum das gut gebaute Stück trotz meisterhafter Musik auf den Theatern keinen solchen Siegeszug feiert, wie der gleichzeitig entstandene Rigoletto mit seinen Opernschlagermelodien: obwohl ein Mord passiert, gibt’s auf der Bühne nicht mal ein Sterben mit anschließender Leiche, da bleiben auch die musikliebenden Maffiosi enttäuscht.

Nur, ganz so harmlos sah es die Zensur kurz nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 allerdings nicht. Diese nahm Anstoß an den gottesdienstlichen Handlungen und besonders am Tabubruch, Geistliche in moralisch zweifelhaften Konflikten vorgeführt zu sehen. Das ging zu weit. Das Werk wurde in allen folgenden Produktionen dermaßen zusammen gestrichen, zerstückelt und verfälscht, dass Verdi schließlich aufgab, es komplett zu einer Kreuzritter-Oper Aroldo umschrieb und den Rest vernichten ließ – was gottseidank nicht gelang, und so konnte die Urfassung in unserer Zeit rekonstruiert werden. Siehe da – ein Meisterwerk erstrahlte! Doch die Alltäglichkeit der „bürgerlichen Allerweltserfahrung“ (Karl Dietrich Gräwe) macht es wohl selbst heute noch Kirchgängern schwer erträglich: die Wiedererkennungseffekte eigener Lebensproblematik trüben den Fluchtversuch ins musische Idyll des ersehnten Belcantos! Schlechte Aussichten für die Rehabilitierung des Stiffelio

*

Gefundenes Fressen für einen wahren Musiker und Künstler, wie den Dirigenten Felix Krieger, dessen Leidenschaft der Wiederbelebung selten zu hörender italienischer Opernpartituren gilt, solchen widmet der Schüler Claudio Abbados einmal im Jahr die Auftritte seiner von ihm gegründeten und geleiteten Berliner Operngruppe e.V. (nicht gerade ein Name, der mich in ein italienisches Opern-Konzert gelockt hätte). Doch wie leidenschaftlich, wie aufrichtig er sich für eine Sache einsetzt, spürt man bereits, wenn er (z.B. im Interview mit dem rbb) von den Recherchen im Ricordi-Archiv schwärmt oder von der von ihm initiierten Al-Farabi-Musikakademie Berlin, deren künstlerische Leitung er gemeinsam mit dem Pianisten Saleem Ashkar innehat (Schirmherr ist Daniel Barenboim). In all diesen Unternehmungen kommt es ihm darauf an, junge Menschen aus allen Schichten und Ländern für die Musik zu gewinnen, denn sie sollte „für alle da sein“ und „nichts Privilegiertes“ und Elitäres. „Ein Instrument für jedes Kind!“ – Ein in unsrer Welt selten gewordenes Credo der Hoffnung.

Zweifellos dieses schöne Ethos entfachte auch die allenthalben spürbare Musizierlust der so verdienstvollen Stiffelio-Aufführung, die Krieger im Berliner Konzerthaus dirigierte. Mit souveräner Meisterschaft modellierte er ganz klar und plastisch die vollkommene Architektur des Werks heraus, aber immer bewusst mit den Gesangslinien gehend, entwickelte der aufmerksame Maestro aus dem Geschehen Dynamik, Tempi und Dramatik, ohne äußerliche Effekthascherei, fein ausbalancierend, nicht zuletzt die großen Bögen und Ensembles in ihrem ganzen Farb- und Kontrastreichtum. Dramatik und Schönheit in Einem, lebendig, hinreißend!

Die halbszenische Aufführung war sängerisch von (international) durchweg beachtlichem Rang: eines solchen Vokalensembles dürfte sich jede Bühne Italiens mit Stolz rühmen – nicht minder eines solchen Orchesters! Bereits die allerersten Pizzicati der Ouvertüre gerieten perfekt und entzündeten ein Feuer, das den ganzen Abend bis zum letzten Akkord durchstrahlte! Bravi tutti! – Immer ist es ungerecht, bei derartigem Zusammenspiel Aller einzelne Solisten hervorzuheben, doch muss das Trompetensolo (Lukas Bach) besonders gelobt sein, wie die Oboe Friederike Börnchens – und nicht zuletzt das Englischhorn im Dritten Akt, schier zu Tränen bewegend (Simeon Overbeck). Die Kostbarkeit der Streichquartettpassage, mit der Linas Szene im Zweiten Akt anhebt, dürfte in der sinnlich-rauhen Ausführung von Sergej Bolkhovets (Erste Violine), Marketa Janouskova (Zweite Violine), Mirjam Beyer (Viola) und Bronislaw Madziar (Violoncello) kaum ihresgleichen finden.

Allen voran überwältigten die Spintosopranistin Maria Katzarava in ihrer sängerische Höchstleistung abfordernden Partie der Lina und Alfredo Daza als ihr Vater Stankar (beide aus Mexico; man freut sich, in Zukunft von ihren weiteren Weltkarrieren zu hören). Katzarava hat eine makellos agile Stimme, die durch alle Register ein faszinierendes Funkeln aufweist und mit Ablomb fesselt. Sowohl die innigsten, zarten Ausdrucks-Facetten als das leidenschaftliche Aufflammen in den dramatischen Höhen gelangen ihr so überzeugend wie betörend! Ihr gelang das Porträt einer Frau, die sich der Zermalmung durch besinnungslose Männerwut von allen Seiten aufbäumend zu widersetzen versucht. Daza packte desgleichen mit einem höchst differenzierten und machtvoll leuchtenden Bassbariton, der ideal geeignet für die schwarzen Vaterfiguren Verdis ist. Ihre atemberaubenden Auseinandersetzungen und Soloszenen wurden Höhepunkte des Abends, da stieben die Funken! Diesem hohen Niveau entsprach auch der Dritte im Trio: der Brite Peter Auty als beinahe Luther ähnelnder Stiffelio, dessen strahlender Tenor der Dramatik absolut nichts schuldig blieb (trotz einiger Fahlheit in wenigen hochgelegenen Figurationen). Bedenkend, dass er diese anspruchsvolle Aufgabe kurzfristig für den erkrankten Roberto De Biasio übernommen hatte, bleibt nur Respekt vor einer Hingabe, die auch bei ihm bis ins szenische Spiel reichte und eine Bühnenrealisation keineswegs vermissen ließ!

Genauso waren in den kleineren Partien sehr gute Stimmen, die den herrlichen Ensembles Glanz verliehen, zu hören: so mit ihrem wundervoll leuchtenden Mezzosopran Natalia Skrycka als Dorotea und der junge Tenor Linard Vrielink als Frederico. – Francesco Ellero d'Artegna verkörperte den Jorg mit kräftig und gut geführtem Bass. Als triebgesteuerter Unglücksbursche Raffaele war Ya-Chung Huang für den Tenor Miloš Bulajić eingesprungen, darstellerisch etwas unbeholfen, völlig auf Angst und Verzweiflung reduziert.

Womit wir bei der „halbszenischen“ Darbietung wären, die der Präsentation des unbekannten Stückes gestalterisch vorteilhaft und präzise diente und sich als gut durchdacht bewährte (wenngleich die anachronistische Kostümierung – etwa Doroteas Minirock oder der Jugendweiheanzug Fredericos – den Sinn des Ganzen bisweilen ad absurdum führte; ein anderer Störfaktor blieb der dauerpräsente Emailleeimer, dessen Einsatz als „Papierkorb“ ihn kaum rechtfertigte – in der Oper soll es ein Feuer sein); zurückhaltend, aber theatralisch sinnvoll hatte Thilo Reinhardt (szenische Einstudierung) die Chorauftritte, ob auf dem Orchesterpodium oder auf der Orgelempore arrangiert, das hohe Engagement aller Beteiligten ließ die Freude am Projekt in jedem Moment spüren – und wirklich war der Gesang dieses Chores, was Klang, Ausdruck und Präzision betrifft (Choreinstudierung: Steffen Schubert), ein erfreulicher Hochgenuss! Italienisches Melodramma (fast) ohne Italiener, aber mit wahrer Italianità! Das Publikum dankte für einen sensationellen Verdi-Abend: Bravo!




Bildquelle: berlineroperngruppe.de

o.b. - 4. Februar 2017
ID 9820
STIFFELIO (Konzerthaus Berlin, 01.02.2017)
Musikalische Leitung: Felix Krieger
Choreinstudierung: Steffen Schubert
Szenische Einrichtung: Thilo Reinhardt
Besetzung:
Stiffelio ... Peter Auty
Lina ... Maria Katzarava
Stankar ... Alfredo Daza
Jorg ... Francesco Ellero d ́Artegna
Dorotea ... Natalia Skrycka
Raffaele ... Ya-Chung Huang
Frederico ... Linard Vrielink
Chor und Orchester der Berliner Operngruppe
Konzertante Aufführung


Weitere Infos unter http://www.berlineroperngruppe.de


E-Mail an den Autor: ob@kultura-extra.de


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