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Uraufführung

Katastrophen-

Selfies

KEIN LICHT. (2011/2012/2017)
zur Ruhrtriennale 2017


Cheeky (Hund) und Olivia Vermeulen (Mezzosopran) | (C) Caroline Seidel/Ruhrtriennale 2017

Bewertung:    



Gleich am Anfang wird es niedlich: Terrier Cheeky lässt sich von einer Hundetrainerin im Zentrum der Bühne der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord platzieren. Auf einer Erhöhung leitet sie ihn dazu an, mit unterschiedlicher Intensität zu bellen – mal laut, mal leiser werdend. Während des Bellens spielt das Orchester leise auf. Auch später lässt sich der Hund immer wieder auf der Bühne entdecken, ohne dass sich aus seinem Erscheinen notwendigerweise eine sinnstiftende Funktion für das Vorgeführte ergibt. Während der zweieinhalbstündigen und pausenlosen Vorführung wird viel gekalauert. Komponist Philippe Manoury und Regisseur Nicolas Stemann entwickelten für die diesjährige RUHRTRIENNALE einen hybriden Neologismus und ein vermeintlich neues Genre – das sogenannte „Thinkspiel“. Das geläufigere Singspiel, also der abwechselnde Einsatz von gesprochener und gesungener Stimme, soll sich in ihrer Uraufführung von Kein Licht. (2011/2012/2017) um den Aspekt des abstrakten Denkens erweitern. Der Inszenierung liegen Elfriede Jelineks Drama Kein Licht. (2011) und seine Zusatztexte Epilog? (2012) und Das Einzige, sein Eigentum (Hello darkness, my old friend) (2017) zugrunde.

Chaotische Gedanken vielschichtiger Sprecher eröffnen während des Theaterabends keine lineare Geschichte und auch keine räumlichen oder zeitlichen Orientierungspunkte. Über weite Passagen wird der Zuschauer über das Vorgeführte im Dunkeln gelassen, etwa wenn die Sprache selbst mehrmals monologisch auf Französisch und mit in ihr verwobenen musikalischen Strukturen zu ihm spricht. Insofern wird die Vorführung seinem Übertitel durchaus gerecht, nicht nur, als es auf der Bühne einmal plötzlich beinahe völlig duster wird.

Kein Licht. handelt von den Abgründen der Energiegewinnung und technologischen Intelligenz. Die Fortsetzung von Jelineks Werkzyklus über die Katastrophenanfälligkeit menschlicher Technik erinnert an die Havarie des Atomkraftwerks Fukushima. Stemanns Inszenierung arbeitet ironischerweise mit sehr viel Elektrizität und Technik. Neben Soundcollagen, allerlei Verstärkern und Verzerrern setzt die Produktion auch vielfältige Videoprojektionen auf zahlreichen umliegenden Wandmonitoren und plötzlich von der Bühne stürzende Wassermassen ein. So gerät das Vorgeführte manchmal arg spektakelhaft, kontrastiert jedoch etwas mit sphärisch Gesängen vierer Solisten und einem getragenen und manchmal bewusst dissonanten Orchesterklang.

Das Thema Musik hat sich in Jelineks Endzeitvision somit noch nicht erledigt, obwohl man zeitweise keine Musik mehr hört. Streichinstrumente werden von verschiedenen Figuren geführt. Die Musik scheint jedoch geflohen. Es erklingt kein Ton. Eine Figur stellt die Rhythmisierung von Zeit infrage: „Musik ist Zeit und die haben wir nicht mehr.“ Die Orchesterspieler können ihre Töne nicht mehr hören und erzeugen Nichts. Zwanghaft streichen sie weiter, obwohl sie durch diffusen Lärm, „Geheul, Gebrüll, Stöhnen, Weinen, Schluchzen“, gestört und irritiert werden: “Nicht einmal ein Wort rührt uns an.“ Mit böser Ironie und parodistisch wenden sich erste und zweite Geige als lebende Leichen an die Zuschauer. Sie fragen, ob diese sie denn überhaupt noch sehen und hören könnten? Als Künstler würde sie das sonst vor ein großes Problem stellen. Unterschwellig wird hier die Perfidie des immerwährenden Weitermachens des Kunstbetriebs hinterfragt: “Die Gier zwingt alle zum Reagieren.“

Ist es wirklich Zufall, wen es trifft? Wenn Figuren auf der Bühne behaupten, dass der Reaktorunfall durch die Natur verursacht wurde und den Menschen keine Schuld zukomme, wird mal wieder den Glauben an die „endlose Unschuld“ des Menschen bemüht. Es ist eine Abschiebung von Verantwortung, welche stets die Natur ins Visier nimmt. Indirekt wird kritisiert, dass die Hybris des Menschen in der Atomindustrie destruktiv bedroht wird und nicht nur soziale Ideale und die Authentizität von zwischenmenschlichen Beziehungen ad absurdum führt. Kein Licht. thematisiert Kunst im Zusammenspiel mit Entfremdung und dem Driften in das Jenseitige. Ein Wir-Gefühl, dem zu Anfang noch mit Parolen Raum gegeben wird, wird Lügen gestraft.

Das Eintreffen der während der Vorführung lange schon postulierten Katastrophe markieren auf die Bühne stürzende Wassermassen. Diesen Moment kosten die beiden Sprecher Caroline Peters und Niels Bormann voll aus, indem sie sich inmitten der Wassermassen in allen möglichen Posen mit ihren Smartphones knipsen. Erst als auch ihre Smartphones nicht mehr reagieren, werden sich die Figuren langsam ihrer Lage bewusst. Ein über 15minütiges Schnatter-Oratorium der Solisten problematisiert gegen Ende das Phänomen Trump. Ineinander rhythmisch übergehende Sprachfetzen offenbaren, wie aufgeregt aber voraussichtlich unzureichend die Öffentlichkeit einer möglichen Gefährdung durch den wahrscheinlich mächtigsten Twitter-Choleriker der Welt begegnet. Etwas platt erscheinen spätere Videoprojektionen, in denen einzelne Privilegierte frohgemut in einer Rakete knapp dem Weltuntergang entgehen und einen neuen Planeten heimsuchen.

Zum Schluss befriedet die ukrainische Opernsängerin Christina Daletska gekonnt mit einer nuanciert wohltemperiert modulierten Variation von Nietzsches „O Mensch! gib Acht“ frei nach Gustav Mahler. Die Möglichkeit einer gerechten Welt scheint da jedoch schon längst begraben. Der im Grunde fatalistische Zug der Vorführung, bei denen sich die Zuschauer nur schwer in das diffuse Geschehen einfühlen können, ermüdet, deprimiert und stimmt nachdenklich.




Olivia Vermeulen in Kein Licht. (2011/2012/2017)| (C) Caroline Seidel/Ruhrtriennale 2017

Ansgar Skoda - 27. August 2017
ID 10215
KEIN LICHT. (2011/2012/2017) (Landschaftspark Duisburg-Nord, 26.08.2017)
Ein Thinkspiel von Philippe Manoury und Nicolas Stemann nach dem Theaterstück Kein Licht. von Elfriede Jelinek, unter Verwendung der Zusatztexte Epilog? (2012) und Der Einzige, sein Eigentum (Hello darkness, my old friend) (2017)

Musikalische Leitung: Julien Leroy
Inszenierung: Nicolas Stemann
Bühne: Katrin Nottrodt
Kostüm: Marysol del Castillo
Video: Claudia Lehmann
Licht: Rainer Casper
Computer Music Design: IRCAM Thomas Goepfer
Elektronische Musik: IRCAM
Dramaturgie: Benjamin von Blomberg
Mit: Niels Bormann (Darsteller), Christina Daletska (Alt), Lionel Peintre (Bariton), Caroline Peters (Darsteller), Sarah Sun (Sopran), Olivia Vermeulen (Mezzosopran) sowie Cheeky (Hund)
Vokalquartett Croatian National Theater Zagreb
United Instruments of Lucilin
Uraufführung war am 25. August 2017.
Weitere Termine: 27.08. / 01.-03.09.2017


Weitere Infos siehe auch: http://www.ruhrtriennale.de


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