Wagner, Wagner und kein Ende... (200. Geburtstag)
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14. Oktober 2012, Theater Lübeck
PARSIFAL
durch Anthony Negus & Anthony Pilavachi
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Parsifal in Lübeck - Foto: Oliver Fantitsch
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Vor paar Tagen passierte ein Gesetzentwurf, welcher die kommerzielle Sterbehilfe verbieten soll, ungehindert den Bundesrat. Wer absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, soll demnach bis zu drei Jahre in den Knast wandern. Angehörige, nahe stehende Menschen, Ärzte und Pfleger sollen für die Begleitung zum Sterbehelfer jedoch nicht belangt werden. Schon im nächsten Monat entscheidet darüber der Bundestag. Es liegt nicht nur an der abendländischen Kultur, dass wir uns mit diesem Thema so herumquälen. Doch was fühlt der Einzelne in dem Moment, wenn er an einem Bett steht - oder vielmehr: stehen muss - welches von lebensverlängernden Apparaten umstellt ist? Wie denkt er über sich? Was, wenn er hier eines Tages angeschlossen liegen sollte? Erlösung dem Erlöser? Wir alle sind Parsifal - das ist die Botschaft, die uns Anthony Pilavachi in seiner Inszenierung mit auf den Weg geben möchte. Entscheidend aber ist das „Wie“. Der Regisseur lässt nämlich keine Banderole entrollen oder das Licht im Saal anknipsen. Pilavachi tut dies auf verschlungenen Pfaden. Es gilt, eine harte Nuss zu knacken…
Schon zu den ersten Takten von Wagners Schwanengesang glimmen auf der Bühne die Leuchtröhren: Parsifal liegt im Sterben. Nachdem das Vorspiel sanft in den ersten Aufzug hinübergeglitten ist, betritt Gurnemanz (herrlich sonor: Albert Pesendorfer) in Habit und Jesuslatschen die Szene. Ein katholisches Krankenhaus? Trifft hier etwa die Kirche auf Halbgötter in weiß? Die Ordensgemeinschaft der Gralsritter ist in derart alten Ritualen erstarrt, dass dem Parsifal der Gegenwart nicht begreiflich werden kann, was hier eigentlich vor sich geht. Und so ist es auch nicht verwunderlich, wenn in der ersten Pause der Sitznachbar gefragt wird: Sag mal, weißt du, was du sahst? Pilavachi ist ein schlaues Schlitzohr. Mit voller Absicht legt er anfangs eine falsche Fährte nach der anderen, um damit den Zuschauer in die Irre zu führen. Aber man kann ihm das gar nicht übel nehmen, hockt man doch stets gespannt auf der Stuhlkante.
Der zweite Aufzug erstrahlt gleichfalls in grellem Kliniklicht. Nicht eine einzige Blume ist zu sehen und dennoch verfängt sich Parsifal in den Fallstricken der Lust. Über Blumenmädchen und Bacchatinnen, über Sodom und Gomorra, über Wein, Weib und Gesang, gebietet der Beelzebub: Antonio Yang ist ein exzellenter Klingsor, kernig und textverständlich, mit teuflischer Emphase. Zwei Welten also: Die apollinische Burg Monsalvat und der dionysische Zaubergarten. Mit ihrem Yin-und-Yang-Mantel verkörpert Kundry beide Ideologien in einer Person. Mag Ausrine Stundyte nicht die Tiefe für diese Partie besitzen: Ihr flammendes Timbre und das durchdachte Spiel lassen darüber hinweghören. Richard Decker agiert nicht nur als smarter Parsifal, sondern singt ihn auch so, mit solidem, selten heldisch auftrumpfendem Tenor.
Anthony Negus und das Philharmonische Orchester liefern eine glasklar-ausbalancierte, klanglich mitreißende Lesart der Partitur. Die Tempi sind flüssig, und die Lautstärken halten sich trotz offenem Graben in geschmeidigen Grenzen. Die Chöre können sich ebenfalls hören lassen. Eine enorme Aufwertung erfährt der Amfortas. Nicht nur durch den darstellerisch und gesanglich eindringlichen Gerard Quinn, sondern auch durch die Regie. Im zweiten Aufzug wiederholt sich die Vorgeschichte, so dass Kundry nicht Parsifal küsst, sondern den Gralskönig. Seitdem muss Amfortas dafür - im wahrsten Sinne des Wortes - bluten, selbst zur Gralsenthüllung. Wenn jetzt Parsifal im letzten Akt den Speer ergreift, um damit einem Todgeweihten die Wunde zu schließen, dann ist das keine Frage von Moral. Sondern eine des Mutes. Und der Liebe. Nachdenklichmachender kann ein Theaterabend kaum sein.
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Parsifal in Lübeck - Foto: Oliver Fantitsch
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Heiko Schon - 22. Oktober 2012 ID 6282
PARSIFAL (Theater Lübeck, 14.10.2012)
Musikalische Leitung: Anthony Negus
Inszenierung: Anthony Pilavachi
Ausstattung: Tatjana Ivschina
Licht: Falk Hampel
Dramaturgie: Dr. Richard Erkens
Besetzung:
Amfortas … Gerard Quinn
Titurel … Igor Levitan
Gurnemanz … Albert Pesendorfer
Parsifal … Richard Decker
Klingsor … Antonio Yang
Kundry … Ausrine Stundyte
u. a.
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Opernchor und Extrachor des Theater Lübeck
Mitglieder des Freien Opernchors Coruso e. V.
Choreinstudierung: Joseph Feigl
Premiere war am 2. September 2012
Weitere Termine: 4., 18. 11. + 30. 12. 2012 / 27. 1. + 24. 2. + 17. 3. + 7. 4. + 5. 5. 2013
Weitere Infos siehe auch: http://www.theaterluebeck.de
Post an unseren Rezensenten Heiko Schon
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