ANAPARASTASIS
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Werbefoto zur Performance ANAPARASTASIS: Jean Bellegambe, Jüngstes Gericht, um 1520/25, Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Detail) - davor: Jonathan de la Paz Zaens und Michael Rauter | Bildquelle: zeritgenoessische-oper.de
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Hölzers Raumeinnahme - eine Plattform
"inneren" gelebten Glücks
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Es gibt so Tage, und die können sich bis abends hinziehen, da fühltst du dich so Scheiße, dass es keine Worte hierfür gibt. Diesen abartigen Befindungs- und Gefühlszustand nach einem echten Grund dann abzuforschen, fehlte es - also in echtzeitiger Livedurchlebung des abartigen Befindungs- und Gefühlszustands - an Lust und Laune; und zum Psychoanalytiker, also extra deswegen, ja und falls du einen guten Psychoanalytiker dein Eigen sozusagen nenntest, hinzugehen, hast du auch dann nullsten Bock; Ende November halt, und also ewig dunkel, Wetter Scheiße (sowieso), der kaufrauschige Menschen-und-Adventsbrei in den S- und U-Bahnen versucht sich deiner tuchfühlmäßig zu bemächtigen, du findest alles Das zum Kotzen, träumtest dich nur noch auf eine Insel oder schlichter noch unter die eigne Bettdecke... keinen und nichts mehr sehen, hören, fühlen; leckt mich alle doch am Arsch!!!
Dann gehst du hin zu einer Sache, wo du vorher (leider) leidenschaftsfrei zugesagt hast, also wo du denkst, du müsstest das jetzt machen, weil du eben vorher (leider) leidenschaftsfrei zugesagt hast; also gut, mal seh'n...
Das findet statt in der Gemäldegalerie Berlin. Hat einen hyperintellektuell scheinenden Titel, nennt sich ANAPARASTASIS. JENSEITS DER BILDER; und du - also ich (von jetzt ab: ich) - merkst resp. merke, dass ich mich nicht hierauf vorbereitet habe; und ich weiß so ganz und gar nicht, was mich da "so Schwieriges" erwartet. Aber ich bin furchtbar neugierig und gehe da jetzt einfach rein:
Das Publikum ist angenehm, sehr unaufdringlich, gleichsam ziemlich elitär; könnten paar Hundert Leute sein, die sich bereits 'ne halbe Stunde vor Beginn dieser Veranstaltung unter dem Untertitel "Produktion von Sabrina Hölzer mit Musik von Jani Christou, Toshio Hosokawa, Thomas Tallis und einen japanischen Choshi"
in den Foyergefilden der Gemäldegalerie Berlin - inmitten des Kulturforums, vis-à-vis der Berliner Philharmonie gelegen - eingefunden haben; und es kommen immer mehr, viele Gesichter auch, die ich von anderen Premieren kenne, manche(n) grüße ich. Ein kleiner Imbiss ist auch aufgebaut; ich kaufe mir 'nen Rotwein.
Dann ist Einlass.
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Und ich gehe in die sogenannte Wandelhalle... Wow! Die muss man sich in den Dimensionen einer Bahnhofshalle vorstellen; fehlen nur noch die Gleise für die Züge.... Von hier aus geht es jeweils rechts und links zu den eigentlichen Ausstellungsräumen der Gemäldegalerie; hier hängen van Eyck, Bruegel, Dürer, Raffael, Tizian, Caravaggio, Rubens, Rembrandt, Vermeer; es ist stockdunkel darin, und nur ab und zu ist eines oder das andere Gemälde separat mit einem grellen Spotlicht angestrahlt. Die Wandelhalle selbst schwebt irgendwie in einem warmen, aber düsteren Wohnzimmerlicht; es schwankt intensisch, ist mal heller und mal dunkler... Irgendwas soll hier dann gleich geschehen... Und ich stelle mich an eine Säule; neben mir ein junger Kerl, der einen Laptop vor sich hat, er muss fürs Technische, was gleich so mit passieren wird, zuständig sein; ich frage ihn, ob ich ihn bei der Arbeit stören würde, wenn ich jetzt so neben ihm hier stehe; er verneint und gibt mir augenzwinkernd einen Rat: "Geh' besser ganz ganz vor, denn vorne fängt es an." - Okay, ich mache's so, wie er mir riet...
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Um kurz nach 21 Uhr, totales Black - nur ganz ganz vorne, wo ich hingegangen bin, sind plötzlich zwei Podeste angestrahlt. Auf ihnen steht zur Linken Wu Wei (mit einer asiatischen Mundorgel), zur Rechten sitzt Akkordeonspieler Stefan Hussong. Ihr Stück ist mit Banshikicho no Choshi im Programmblatt überschrieben; weiß nicht, was das heißen soll, interessiert auch nicht, denn: Vom Akustischen ist dieser initiale Eindruck überraschend wie der Angriff eines korallenfressenden Dornenkronenseesterns unter Wasser; ich bin aufs Willenloseste zurückgeschmissen, setze mich auf das Parkett, fast lege ich mich auf den Rücken. Halte meine Augen auf und denke permanent, ich hätte sie wohl zu. 20 Minuten lang das Hören eines fast "nur" ostinaten Tons; kaum schwindet er zu einem Nachbarn seinesgleichen; ich beobachte die beiden Spieler, ihre Augen sind verschlossen, ihre Innenwelten "schlagen" obzessiv nach außen, es ist eine ansteckende Trance, die sich ihren Betrachtern mitteilt; nicht nur ich vermeine mich während des so Erlebten wie in einem Traume eingetönt; ein endlosseiendes Gefühl...
Danach schließt sich sofort diese perfekt gewollte (initiale) Szene; black!
Paar Meter weiter ist die Zweitstation dieser - und jetzt begreife ich den Ablauf dieses Abends Stück um Stückchen - Zeitreise durch unser Innerstes: Isao Nakamura spielt auf seinem Schlagzeugapparat Sen VI von Hosokawa; und er leckt sich ab und an die Fingerspitzen, und dann schlägt er nicht nur, nein, er streichelt, rührt und "penetriert" das ihm off stehende Instrumentarium. Ich kann und will mich einer kindlich anmutenden Freude über das Gesehene, Gehörte nicht erwehren; und ich gehe unterdessen in der Wandelhalle auf und ab...
Ich wähle mir jetzt einen nahen Platz vor den über zwei Dutzend Leuten, die für den Zentralpunkt der Performance Aufstellung genommen haben, setze mich erneut auf das Parkett und habe ganz direkt Kristjan Orri Sigurleifsson vor mir; denn er hat einen Kontrabass (ich spielte auch mal Kontrabass) und wartet, wie die anderen mit ihm, auf seine Einsätze... / Das Stück, das dann dem Abend auch den Titel gab, heißt Anaparastasis I "The Baritone" und stammt aus einem unvollendet gebliebenen Zyklus von Jani Christou (1926-1970); Wikipedia schreibt zu seiner Vita: "Christou wurde im ägyptischen Heliopolis als Sohn griechischer Eltern geboren. Als Kind besuchte er die Englische Schule von Alexandria und nahm Klavierunterricht bei der großen griechischen Pianistin Gina Bachauer. Später studierte er Philosophie in Cambridge bei Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russell. Im Jahre 1948 machte er in Cambridge seinen Studienabschluss. Während seines Philosophiestudiums studierte er nebenbei Musik bei Hans Redlich und Roberto Gerhard. 1949 reiste Christou nach Rom, um Orchestration bei Angelo Francesco Lavagnino zu studieren. Eine Zeit lang nahm er auch Unterricht bei Carl Jung in Zürich. 1951 kehrte er nach Alexandria zurück. 1961 heiratete er Theresia Horemi. Christou starb an seinem 44. Geburtstag bei einem Verkehrsunfall in Athen." (Wieder was dazu gelernt.) // Und Kristjan, mein Kontrabassist, rastet stellenweise völlig aus, indem er seinen Bass herum schleudert und klopft und auf ihm mit den Fingerkupen gar zu steppen scheint; ja, das gefällt mir sehr, das teilt sich mir schon fast als so ein Aufgefordertsein zum Tanzen her; auch Jonathan de la Paz Zaens, der Bariton des Stücks, braucht sich ums Angekommenwerden einer Artenvielfalt seines (Sprech-)Gesanges bei mir Hörer nicht zu sorgen, und ich sehe ja auch, was da alles schweißtreibend in/außer ihm zu Gange ist. Ich mag das komplizierte Stück jetzt nicht erklären; das Verständnis aus dem Text (der Partitur) heraus gelingt am Ende so und so nur, also ausschließlich, seinen Direktbeteiligten am Werk. Die Wirkung allenthalben ist frappant. Auch hier, wie in den Stücken schon davor, das Nachvollziehen und/oder Erleben von diversen Träumen oder Traumata - nicht mehr, nicht weniger...
Der absolute Hammer dieses Abends allerdings erfolgt am Schluss: Spem in alium ist noch angezeigt, sein Autor: Thomas Tallis (1505-1585). / Das letzte Podest wird angestrahlt, auf ihm steht ein recht hoch gewachsener, graziler, ja fast durchsichtiger Körper; er gehört dem Dirigenten Matthias Stoffels, und der dreht sich um sich selbst, hat eine Riesenpartitur vor sich, streckt seine langen Arme aus und fängt mit Überdeutlichkeit zu dirigieren an; nur - wen??? // Ganz "heimtückisch", wie aus dem hin- und herwandelnden Publikum geschält, also als wären sie von uns, beginnen nach und nach die zaubervollen Stimmen des consortium vocale berlin die 40stimmige (!) Motette Schritt um Schritt zu intonieren. /// Es ist überwältigend; die Stimmen sind von überall, rechts, links, vor, hinter dir; der Hall im Raum ist nicht zu wenig, nicht zu viel, er überschwemmt nicht, nein, er "trennt" die Stimmen und bedeutet gleichsam ihr Zusammenrauschen...
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Dass Sabrina Hölzer - Architektin/Bauausführende des Unterfangens insgesamt - noch völlig andersartige Behaustheiten von/für Musik in petto hätte, bleibt nach diesem Abend ohne jeden Zweifel. Sie versteht halt Räume und wie man sich halt in diesen Räumen so und so vehäl(l)t. Grandioses Künstlertum an sich. Respekt.
Mehr!!!!!
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Andre Sokolowski - 1. Dezember 2009 ID 4474
http://www.andre-sokolowski.de
ANAPARASTASIS (Gemäldegalerie Berlin, 29.11.2009)
Idee und Konzeption: SABRINA HÖLZER
Licht: FRED POMMEREHN
Technische Leitung: JÖRG SCHILDBACH
Klangregie: DANIEL WEINGARTEN
Bauten: PETER NIEMANN
Ausführende:
STEFAN HUSSONG (Akkodeon), WU WEI (Asiatische Mundorgel); ISAO NAKAMURA (Schlagzeug); JONATHAN DE LA PAZ ZAENS (Bariton), MICHAEL RAUTER (Cello), DANIELLA STRASFOGEL (Violine), SARAH GRUBINGER (Viola), KISTJÁN ORRI SIGURLEIFSSON (Kontrabass), CLEMENS HUND-GÖSCHEL (Klavier), STEVE HEATHER (Schlagzeug), MIGUEL PERÉZ INESTA (Klarinette), BILIANA VOUTCHKOVA (Violine), MIKE MAAS (Akkordeon), ULF SCHMITT (Flöte), CHRISTIAN BANZHAF (Horn), WOLF SCHEIDT (Gitarre) u. a., KAMMERCHOR DER SING-AKADEMIE ZU BERLIN (musikalische Leitung: ALEXIS AGRAFIOTIS); CONSORTIUM VOCALE BERLIN (musikalische Leitung: MATTHIAS STOFFELS)
Eine Produktion von Sabrina Hölzer
Weitere Infos siehe auch: http://www.zeitgenoessische-oper.de
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