Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 5

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

CD-Besprechung

Süßer Berliner nie klingen

Ein Vergleich der Nussknacker-Aufnahmen von Sir Simon Rattle und Semyon Bychkov




Brachte der Weihnachtsmann letztes Jahr vielleicht die Eintrittskarten, so kann nun die entsprechende CD-Box auf den Gabentisch gelegt werden: Zum Silvesterkonzert 2009 spielten die Berliner Philharmoniker den 2. Akt von Tschaikowskis Nussknacker, die EMI zeichnete im gleichen Zeitraum das komplette Werk auf. Mag Sir Simon Rattle damit auch ein Loch in seiner Diskographie füllen: Für das Orchester ist es nicht die erste Einspielung des Ballettklassikers. 1986 erschien eine Aufnahme bei der Philips, damals dirigierte Semyon Bychkov. Trotzdem es der gleiche Klangkörper ist, können die Interpretationen unterschiedlicher kaum sein - ein Vergleich.

Zunächst einmal überrascht es nicht, dass die EMI-Einspielung bei der technischen Qualität in Führung geht. So sorgt ein hervorragend ausgesteuerter Sound dafür, dass Farben intensiver leuchten und Instrumente deutlicher hervortreten als in der Philips-Aufnahme. Was auch sofort zu hören ist, sind die unterschiedlichen Richtungen beider Dirigenten. Rattle serviert einen warmen Klang: sahnig die Streicher, groß die Bögen. Bychkov vermeidet jede Form von Süßlichkeit, setzt auf atmosphärische Dichte. Bei ihm klingt der Apparat der Streicher auffällig spitz. Das Gleiche gilt bei den Blechbläsern, die bei Bychkov kantiger, bei Rattle rundlicher zur Sache gehen. Dirigiert Sir Simon den ersten Akt noch deutlich zügiger, so holt der russische Maestro im zweiten Akt auf. Am Ende beträgt Rattles Vorsprung nicht mehr als zwei Minuten.

1. Akt. Zu Marsch der Zinnsoldaten und Galopp und Tanz der Eltern gebraucht Bychkov die Violinen oder das Schlagwerk als Ausrufezeichen. Rattle geht über diese Stellen viel zu harmonisch hinweg. In der Szene vor dem Tanz des Großvaters vermitteln die Percussion unter Rattle einen Hauch von Kindergeburtstag, während bei Bychkov der stänkernde Fritz mit einer einschneidenden Trompete charakterisiert wird, was besser passt. Der Opa versucht in aller Gemütlichkeit zu schlichten, es wird langsam leiser, und wieder fungieren die Streicher als Interpunktion. Rattles Großvater ist etwas rüstiger, das Treiben wird schneller - und kommt zum Stehen. Klara und der Nussknacker werden bei Rattle zwar in Zuckerwatte gehüllt, aber das Spiel von Harfe und Glöckchen ist ein wahrer Hochgenuss. In der Bychkov-Einspielung seien an dieser Stelle Triangel und Oboe genannt. Bei ihm kommt die Musik hier fast zum Stillstand - Glocke statt Glöckchen - und dann lugt sogar die Romantik um die Ecke. Rattle lässt sich mehr Zeit bei dramatischen Passagen (und mildert diese dadurch ab), Bychkov geht bei lieblichen Stellen (wie etwa Im Tannenwald) behutsamer vor, bevorzugt es zarter oder poetischer (wobei sich das ruppig einsetzende Beckenpaar im eben genannten Beispiel als Stimmungskiller erweist). Unter Rattle tanzen die Flocken wie in einer Schneekugel, verlieren die Walzer nie ihre Seligkeit. Bychkov peitscht das Ganze bis zu einem ausgewachsenen Wintersturm empor.

2. Akt. Für Das Zauberschloss auf dem Konfitürenberg und Klara und der Prinz entwirft Bychkov zarte Traumbilder. Rattle wirbelt hier mit den Klängen, setzt auf satte, schillernde Farben, wobei die Harfe erneut Vergnügen bereitet. Die Divertissements: Beim Spanischen Tanz (die Kastagnetten!) und den beiden Märchen (Die alte Frau, die in einem Schuh lebte und Hanswurst) hat Rattle die Nase vorn. Doch Bychkov fängt nicht nur den orientalischen Kolorit des Arabischen Tanzes besser ein, sondern auch die Leichtfüßigkeit des Chinesischen und das Schwindelgefühl des Russischen Tanzes. Nur der Tanz der Rohrflöten geht unentschieden aus. Beim Blumenwalzer der Rattle-Einspielung habe ich mich endgültig in die Harfe verknallt, die hinein krähende Oboe scheint eifersüchtig. Zum Pas de Deux: Bychkov lässt innig, fast intim aufspielen, doch schlägt diese Stimmung mehr und mehr in Traurigkeit um. Unter Rattle gefallen Der Tanz der Zuckerfee (einfach nur WOW!: die Celesta) und eine in Saus und Braus vorüberziehende Coda. Während Rattle die Philharmoniker zu Schlusswalzer und Apotheose plötzlich auf Diät setzt und das Ausdrucksmittel der Besinnlichkeit entdeckt, scheint Bychkov einfach in die Ferne entschweben zu wollen ...

Unterm Strich würde ich sagen, dass der Bychkovsche Nussknacker geheimnisvoller klingt. Die EMI bewirbt die Rattle-Interpretation als „das schönste Ballett in nie dagewesener Farbigkeit!“. Und genau das ist diese neue Einspielung: hübsch und bunt und leider auch etwas klebrig.

Heiko Schon - red. 29. November 2010
ID 00000004957


Siehe auch:
http://www.staatsballett-berlin.de/de_DE/repertoire/detail/repertoire/550327





  Anzeigen:







MUSIK Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BAYREUTHER FESTSPIELE

CASTORFOPERN

CD / DVD

INTERVIEWS

KONZERTKRITIKEN

LEUTE MIT MUSIK

LIVE-STREAMS |
ONLINE

NEUE MUSIK

PREMIERENKRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski



Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal




Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)