Schwelgereien
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Bewertung:
Täuscht mich die Wahrnehmung, oder steht Schuberts Unvollendete seltener auf den Konzertprogrammen als noch vor einigen Jahren? Falls das zutrifft – könnte es daran liegen, dass eine Ermüdung eingetreten ist gegenüber einem Werk, dessen Hauptthemen jeder im Ohr hatte, dass es durch seine ständige Präsenz „ausgeleiert“ wurde? Wie dem auch sei: Es gibt in der gesamten Kompositionsgeschichte kaum eine zweite Symphonie, von der eine solche Magie ausgeht, von den musikalischen Einfällen ebenso wie von deren Verarbeitung, der zu folgen es keines musikwissenschaftlichen Studiums bedarf. Ob man Schubert der Romantik zuordnen soll oder der Klassik, wie Bernd Wladika im Beiheft der orliegenden DVD fordert, und zwar ausdrücklich nicht als „Elitebegriff“, sondern als „Epochen- und Stilbegriff“, ist unter Fachleuten umstritten. Was da oft wertend mit ideologischem Ballast daher kommt, ist letzten Endes doch wohl nur ein Streit um Worte.
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Das West-Eastern Divan Orchestra machte Schlagzeilen vor allem wegen der politischen Botschaft, die Daniel Barenboim und Edward Said mit seiner Gründung aussenden wollten, dem friedlichen Zusammenspiel von Arabern und Juden in einer unfriedlichen Welt. Aber es hat sich mittlerweile zu einem erstklassigen Klangkörper entwickelt, der nicht umsonst regelmäßig bei den Salzburger Festspielen auftritt, wo die DVD aufgenommen wurde. Diesen Geist friedlicher Harmonie atmet auch Schuberts h-Moll-Symphonie, deren zwei Sätze mehr Intensität und Bewegung enthalten als die vier Sätze mancher anderer Symphonie. Barenboim betont ihren lyrischen Charakter zum Weinen schön.
Auch in Tschaikowskis 1. Klavierkonzert dämpft Barenboim die oft akzentuierten dramatischen Aspekte zugunsten des sanghaft Lyrischen. Mit der Unvollendeten gemeinsam hat dieses Klavierkonzert außer seiner Popularität den Reichtum an einprägsamen Themen, das Schwelgerische von, wie wir heute sagen mögen, „filmischen“ Melodien. Am Klavier sitzt Martha Argerich. Wenn ich diese ungemein sympathische Pianistin im Konzertsaal bestaune, bekomme ich immer nur ihren ausladenden Haarschopf zu sehen. Die DVD zeigt ihr Gesicht, dem man ablesen kann, wie sie die Musik nicht nur mit den Fingern beherrscht, sondern in ihr aufgeht, mit konzentriertem Blick und vibrierenden Lippen. Sie macht das hundert Mal gehörte Werk zu einem Erlebnis. Mit den jungen Musikern im Orchester teilt sie die bestechende Ernsthaftigkeit, die wohltuend kontrastiert zu einer penetranten Spaß-Gesellschaft, die zu beweisen gewillt ist, dass man sich selbst immer noch unterbieten kann.
Als Zugabe: ein Gipfeltreffen an den Tasten. Nicht der vergebliche Versuch, die Üppigkeit von Tschaikowskis Klavierkonzert oder auch von Schuberts Unvollendeter zu übertreffen, sondern ein schlichter Dialog wie zwischen Verliebten. Martha Argerich und Daniel Barenboim spielen Schuberts Rondo in A-Dur für Klavier vierhändig. Standing ovations. Zu Recht. Warum uns die DVD das Konzert für Orchester von Witold Lutosławski vorenthält, das das Konzert in Salzburg abschloss, bleibt ein Geheimnis. Fehlt ihm der Ohrwurm?
Thomas Rothschild – 23. Oktober 2020 ID 12549
NAXOS-Link zur DVD mit
Argerich, Barenboim und dem WEDO
Post an Dr. Thomas Rothschild
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