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Premierenkritik

Bericht von einer abgebrochenen Pilgerreise



Saint François d´Assise an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund

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Ein Spötter könnte auf die Idee kommen, dass sich Viktor Schoner in Stuttgart, 2001 persönlicher Referent von Gerard Mortier bei den Salzburger Festspielen, und Serge Dorny in München, seinerzeit Dramaturg bei Mortier in Brüssel, einen Wettbewerb um die Nachfolge des Übervaters liefern wollen. 2002 bis 2004 war Mortier der erste Intendant der Ruhrtriennale. Mit sich brachte er aus Salzburg Viktor Schoner.

Für die Ruhrtriennale forcierte Gerard Mortier, nicht zum ersten Mal, Olivier Messiaens selten gespielte Oper Saint François d’Assise. Dirigent war Sylvain Cambreling, bis zur Ankunft von Viktor Schoner Generalmusikdirektor an der Stuttgarter Oper. Dort wurde Jossi Wieler durch Viktor Schoner abgelöst und Sylvain Cambreling durch Cornelius Meister. Und auf dem Spielplan erscheint, oh Wunder, Olivier Messiaens selten gespielte Oper Saint François d’Assise.

Diese Oper freilich lohnt eine weitere Inszenierung. Schließlich war ja nicht jede und jeder, zumal aus Stuttgart, 2003 bei der Ruhrtriennale. Ausschnitte aus Saint François d’Assise wurden kürzlich konzertant in Edinburgh und Glasgow aufgeführt. In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren lediglich zwei Inszenierungen, bei den Münchner Opernfestspielen, für die Viktor Schoner damals verantwortlich war, und in Darmstadt. Dabei bietet dieses vor 40 Jahren uraufgeführte, in Stuttgart achtstündige Werk für Ohr und Auge genug an, woran man sich erfreuen oder auch reiben kann. Man muss nicht, wie einige Kritiker*innen beim Klang der Offenbarung des Göttlichen im April, kolportieren, was die Macher über ihr Produkt erzählten, weil es auf der Bühne nichts Sehenswertes und aus dem Orchestergraben nichts Hörenswertes gab, worüber sich zu berichten oder das es gar zu loben lohnte. Überhaupt greift die Gepflogenheit um sich, Autoren, Regisseure und Dramaturgen in Interviews und in Programmheften ausführen zu lassen, welche Absichten sie hatten, weil sie unfähig sind, es auf der Bühne zu realisieren. Theater und Oper aber, die der Erläuterung bedürfen, verfehlen ihre Aufgabe. Sie müssen für sich selbst sprechen. Das Beiwerk der Selbstinterpretation kann die Kritik, wie sie einst entstanden ist, nicht ersetzen. Man könnte meinen, das sei eine Selbstverständlichkeit. Ist es aber nicht. Wer nicht anecken will, überlässt jenen das Wort, die begeistert sind wie eine Mutter über ihr missratenes Kind. Vorausgegangen war ein Trend an den Universitäten. Um sich dem Vorwurf zu entziehen, sie verharrten in der Vergangenheit, bei den Toten, vergaben „fortschrittliche“ Germanisten Themen für Magister- und Doktorarbeiten über lebende Autor*innen, mit dem Resultat, dass sich die Verfasser von diesen sagen ließen und lassen, was sie über sie schreiben sollen. Verglichen damit ist ein Plagiat eine intellektuelle Großtat. Die Distanz zwischen Subjekt und Objekt, also die selbständige Leistung des Doktoranden oder des Kritikers, geht verschütt. Ob das ein Gewinn ist?

*

Saint François d’Assise ist in Stuttgart als Mammutprojekt angelegt. Es beginnt im Opernhaus. Nach etwas mehr als einer Stunde werden die Zuschauer in Gruppen mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß auf den vier Kilometer entfernten Killesberg geführt. Unterwegs dürfen sie über Kopfhörer das vierte von acht Bildern hören, wobei „Bild“ naturgemäß als Metapher zu verstehen ist. Eigentlich ist dieser Einfall eine Verleugnung des Vorteils von Live-Oper gegenüber der Tonkonserve, die man daheim im Lehnstuhl genießen kann. Weiter geht es auf der Freilichtbühne auf dem Killesberg (Franziskus hat offenbar nicht nur zu den Vögeln, sondern auch zum Wettergott eine gute Beziehung), und schließlich endet die Pilgerreise, wo sie begann: im Opernhaus.

Ich sah mich genötigt, sie bei hochsommerlichen Temperaturen und Schmerzen in den Beinen nach der ersten Etappe abzubrechen. Das ist zumindest, was die Musik betrifft, bedauerlich. Namentlich in der Verwendung von Perkussionsinstrumenten ist sie fesselnd und kann den Vergleich mit den meisten zeitgenössischen Opern aufnehmen. In den ersten drei Bildern sitzt das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Titus Engel auf der abgedunkelten Bühne. Für die Sänger – bis zur Übersiedlung sind das Michael Mayes in der Titelrolle, Danylo Matviienko als Bruder Léon, mit dem Franziskus über die „vollkommene Freude“ diskutiert, Moritz Kallenberg, der Aussätzige, der, ein anderer Hiob, mit Gott hadert, dazu, in weiter Ferne, Beate Ritter als glitzernder Engel – bleibt nur ein schmaler Streifen auf der Vorderbühne. Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler hat sich offenbar von akustischen Überlegungen leiten lassen (als Kontrast zu den MP3-Playern?). Die Verteilung des Chors über den Zuschauerraum nach einem ersten kurzen Auftritt im Hintergrund ist ausgesprochen effektvoll.

Musikalisch verdient diese Premiere 1 K mehr als szenisch, thematisch allerdings ist die Heiligenlegende für einen Agnostiker so interessant wie eine Oper über Ludwig Feuerbach für einen gläubigen Katholiken.



Saint François d´Assise an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund

Thomas Rothschild – 11. Juni 2023 (2)
ID 14245
SAINT FRANCOIS D´ASSISE (Opernhaus und Stadtraum, 11.06.2023)
Musikalische Leitung: Titus Engel
Regie: Anna-Sophie Mahler
Bühne: Katrin Connan
Kostüme: Pascale Martin
Choreografische Mitarbeit: Janine Grellscheid
Video: Georg Lendorff
Licht: Bernd Purkrabek
Dramaturgie: Ingo Gerlach
Chor: Manuel Pujol
Besetzung:
Engel ... Beate Ritter
Saint François ... Michael Mayes
Der Aussätzige ... Moritz Kallenberg
Bruder Léon ... Danylo Matviienko
Bruder Massée ... Elmar Gilbertsson
Bruder Élie ... Gerhard Siegel
Bruder Bernard ... Marko Špehar
Bruder Sylvestre ... Elliott Carlton Hines
Bruder Rufin ... Anas Séguin
Premiere an der Staatsoper Stuttgart: 11. Juni 2023
Weitere Termine: 22., 25.06./ 02., 09.07.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de


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