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Hänsel und Gretel an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus

Bewertung:    



Es sind nur etwas mehr als vier Jahre her, seit, noch unter der Intendanz von Jossi Wieler, die letzte Inszenierung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel an der Stuttgarter Oper Premiere hatte. Nun hat Wielers Nachfolger Viktor Schoner eine neue Inszenierung auf den Spielplan gesetzt – nicht etwa als vorweihnachtliche „Kinderoper“, sondern als regelrechten Beitrag zum Repertoire.

Die Konzeptionen freilich könnten gegensätzlicher kaum sein. 2017 lag die Regie in den Händen von Kirill Serebrennikov, den man in seiner russischen Heimat eben festgenommen hatte und der nur notdürftig, über Mittelsleute und mit Hilfe von Film- und Videoaufnahmen, verfügen konnte, was in Stuttgart geschah. Die Aufführung blieb ein Fragment. Für die aktuelle Inszenierung wurde der junge, vom Film her kommende und weniger bekannte Axel Ranisch eingeladen, der in Stuttgart bereits Die Liebe zu drei Orangen einstudiert hat. Wo Serebrennikov den wenig überraschenden Stoff für eine aktuelle politische Botschaft zum Anlass nahm, ist Ranisch eher durch ästhetische Überlegungen motiviert. Irgendetwas muss man sich wohl einfallen lassen bei einer Oper, deren musikalische Substanz – seien wir ehrlich – nicht so umwerfend ist, dass man sie bei nur sieben Premieren pro Spielzeit innerhalb von vier Jahren erneut in Erinnerung rufen müsste. Man vergleiche unter diesem Gesichtspunkt die Zahl der Aufführungen von Hänsel und Gretel mit jener von, sagen wir, Borodins drei Jahre zuvor uraufgeführtem Fürst Igor, nicht zu reden von Humperdincks nur wenige Jahre älteren Zeitgenossen Gilbert & Sullivan, deren auch für Kinder vorzüglich geeignete komische Opern man in Stuttgart bislang noch nicht entdeckt hat.

Ranisch hat Einfälle. Darauf kommt es heute an. Zur Ouvertüre lässt er eine Kamera in einer langen Einstellung über einen Wald schweifen, der nach und nach mit Giftmüllfässern verunstaltet und durch Feuer zerstört wird. Wir haben verstanden. Den romantischen Wald der Brüder Grimm gibt es nicht mehr. Aber dabei bleibt’s. Der Regisseur macht nichts aus diesem Ansatz. Für ein Konzept reicht der Einfall nicht aus.

Schon die Librettistin Adelheid Wette hat das Märchen kindgerecht geglättet. In der Oper werden die Kinder nicht von den Eltern im Wald ausgesetzt, sondern verlassen das Elternhaus von sich aus. Damit aber verliert der Stoff seinen brutalen Kern, und auch der Kindesmissbrauch durch die Hexe, ihr unverhohlener Kannibalismus wird entschärft. Andererseits tut die Regie nichts, um eine möglicherweise ungerechte Verleumdung einer als Hexe denunzierten „alten Frau“ kenntlich zu machen. Nun kann man mit Bruno Bettelheim der Ansicht sein, dass Kinder Märchen brauchen und deren Grausamkeit ihre Funktion hat. So oder so aber sollte man sich in einer Inszenierung dazu verhalten. Ranisch entscheidet sich nicht zwischen Grimm und Wette.

Von Lebkuchen wird nur gesungen. Das konstitutive Lebkuchenhaus ist bei Axel Ranisch und seiner Bühnenbildnerin Saskia Wunsch ein Zwischending zwischen Spiegelkabinett im Lunapark in den Farben eines Bordells und eines Weltraumobservatoriums. Die Hexe scheint einem amerikanischen Spielfilm der 50er Jahre entstiegen.

Am Ende heißt es: „Wenn die Not aufs höchste steigt,/ Gott der Herr die Hand uns reicht!“ Dazu wird die Hexe verbrannt. So hat alles sein gutes, wenngleich nicht gerade christliches Ende.

Und die Sprache? Der Reimzwang, unter dem das Libretto leidet, wirkt heute, nach mehr als 200 Jahren, ziemlich quälend. Da muss sich „Züngelchen“ auf „Jüngelchen“ reimen und „Dingerchen“ auf „Fingerchen“.

Als Hänsel besticht Ida Ränzlöv, als Gretel Josefin Feiler. Die Bewertung einer Repertoireoper muss das Werk, die Musik, deren Interpretation sowie die Inszenierung berücksichtigen. Je nachdem, wie man die Prioritäten setzt, wird das Urteil anders ausfallen. Ginge es nur um die Stimmen der beiden Sängerinnen, wäre die Höchstbewertung noch zu niedrig. In der Zweitbesetzung greift die Oper Stuttgart auf Diana Haller und Esther Dierkes, die Interpretinnen der Titelrollen von 2017, zurück. Viktor Schoner weiß offenbar, was für Schätze sich in seinem Lebkuchenhaus verbergen und nur darauf warten, herausgelockt zu werden. (Apropos: das ist eine Crux von Premierenrezensionen. Kaum je werden die in Opern und Balletten üblichen Zweit- oder gar Drittbesetzungen besprochen. Zu Unrecht.)

Musikalisch ist diese Aufführung vor allem dank dem Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung der Russin Alevtina Ioffe auf halbem Weg zwischen dem Rheingold und der Walküre ein uneingeschränkter Genuss, wenn doch, ach!, Humperdinck das Format des unüberhörbar nachgeahmten Richard Wagner hätte. Axel Ranisch übrigens hält Hänsel und Gretel für das beste an Richard Wagner. Das ist witzig formuliert, und vielleicht meint er es sogar ernst. Aber man kann sich bekanntlich einiges einreden, wenn man sein Handeln begründen will.



Hänsel und Gretel an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus

Thomas Rothschild – 7. Februar 2022
ID 13444
HÄNSEL UND GRETEL (Staatsoper Stuttgart, 06.02.2022)
Musikalische Leitung: Alevtina Ioffe
Regie: Axel Ranisch
Bühne: Saskia Wunsch
Kostüme: Alfred Mayerhofer
Choreographie: Janine Grellscheid
Video: Philipp Contag-Lada
Licht: Reinhard Traub
Einstudierung Kinderchor: Bernhard Moncado
Dramaturgie: Franz-Erdmann Meyer-Herder
Besetzung:
Gretel ... Josefin Feiler
Hänsel ... Ida Ränzlöv
Hexe ... Rosie Aldridge
Vater ... Shigeo Ishino
Mutter ... Catriona Smith
Sand- / Taumännchen ... Claudia Muschio
Kinderchor der Oper Stuttgart
Staatsorchesters Stuttgart
Premiere war am 6. Februar 2022.
Weitere Termine: 09., 20., 26.02. / 09., 11., 13., 28.03. / 03.04.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de


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