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Premierenkritik

Alberichs

Fluch



Leigh Melrose (als Alberich) in Wagners Das Rheingold an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus

Bewertung:    



Man hört nichts von Monteverdianern, noch nicht einmal von Mozartianern oder Verdianern. Nur die Wagnerianer haben sich im eingeführten Wortschatz etabliert. Das deutet darauf hin, dass die Liebhaber von Wagner-Opern nicht einfach spezifische Vorlieben haben wie eben die Fans von Monteverdi, Mozart oder Verdi, sondern dass ihre scheinbar ästhetischen Prioritäten immer auch eine ideologische Komponente ausweisen wie bei Hegelianern oder Stirnerianern. Darum kommt man nicht herum. Wer über Wagner schreibt, verhält sich, bewusst oder unbewusst, apologetisch oder ablehnend. Es fällt schwer, diese Prägung zu überwinden und sich der Aufführung einer Wagner-Oper, gar des Rings des Nibelungen, unbefangen und vorurteilsfrei zu nähern wie etwa einer Oper von Rossini oder von Tschaikowski. Der Wagner-Verächter, der eingesteht, dass ihn ein Dirigat oder eine Inszenierung begeistert habe, ist ebenso selten wie der Wagner-Bewunderer, der bekundete, dass er ganze Passagen im Grunde ziemlich fade und belanglos gefunden hätte. (Eine Inszenierung mag er immerhin schmähen – im Namen des „wahren“ Wagner, versteht sich.) So mächtig ist die ideologische Einfärbung bei Wagnerianern, dass marxistische Wagner-Verehrer wie etwa Hans Mayer vielen als Widerspruch in sich erscheinen.

Die skurrilste Ausformung des Wagnerianismus sind übrigens jene wohlhabenden Japaner, die in Lederhose und Trachtenjanker von einem Ring zum anderen um die Welt reisen. Irgendwie sind mir noch nie bei einem Figaro Japaner mit gepuderter Perücken begegnet. Es muss schon eine besondere Bewandtnis mit Wagner haben.

*

2002 gab es an der Stuttgarter Oper einen Ring, dessen vier Teile der mit gutem Grund legendäre Intendant Klaus Zehelein, abweichend von der Konvention, nicht von einem einzigen, sondern von mehreren Regisseuren inszenieren ließ: von Joachim Schlömer, Christoph Nel, Jossi Wieler und Sergio Morabito und Peter Konwitschny. Das Ergebnis stieß auf nahezu einhelligen Jubel – bei den Wagnerianern trotz und bei den Wagner-Asketen wegen des Traditionsbruchs. Und bei genauerer Überlegung gibt es eigentlich keinen zwingenden Grund, das Mammutwerk einer singulären, einheitlichen Handschrift zu überantworten.

Dieser Ring ist längst vom Spielplan verschwunden, wird aber, nicht nur von eingefleischten Wagnerianern, nach wie vor vermisst. (Jenen zum Trost, die meinen, ein Opernabend ließe sich durch digitale Distribution besser ersetzen als eine Rinderbrühe durch Suppenwürfel: es gibt ihn als DVD-Box.) Nun hat sich der gegenwärtige Intendant Viktor Schoner entschlossen, einen neuen Ring zu starten. Er nimmt Zeheleins Anregung auf und verteilt die Tetralogie ebenfalls auf mehrere Regisseure. Weil man sich aber, wenn man auffallen will, nicht auf ein Erfolgsrezept allein verlassen kann, überbietet er seinen Vorgänger, indem er in der Walküre jeden Akt von anderen Regisseuren realisieren lässt. Das ist ein Unterschied, denn die vier Teile des Werks sind, jeder für sich genommen, schon geschlossener als der gesamte Zyklus. Ob Schoners Vorhaben also glückt, oder ob er bloß ein Gag bleibt, werden wir zu gegebener Zeit beurteilen. Eins kann man schon jetzt sagen: Es erscheint wie Verschwendung, dass ein so aufwendiges Unternehmen, der Ring des Nibelungen, nach Fertigstellung im Jahr 2023, wie auch anderswo, nur zwei Mal komplett aufgeführt werden soll. Man wird sich also wieder um Karten raufen, ein volles Haus ist garantiert, aber das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage wird mit vorhersehbarer Sicherheit unterlaufen. Muss das sein?

* *

Den Anfang macht, klar, Das Rheingold, und die Regie hat als Heimspiel Stephan Kimmig. Herausforderung und Herzensangelegenheit ist dieser Ring allerdings für noch einen: für den ehrgeizigen und erfolgreichen Generalmusikdirektor Cornelius Meister, der, anders als die Regisseure, für alle vier Abende das Monopol hat. Er akzentuiert den dramatischen Charakter der Musik, ohne sie über Gebühr aufzurüsten. Stattdessen lässt er auch die gar nicht so seltenen lyrischen Passagen in einer Weise erklingen, die Wagner stärker als gewohnt in den Kontext seiner romantischen Zeitgenossen stellt. Das Vorurteil, Wagners Musik werde von den Blechbläsern dominiert, torpediert er von Anfang an. Nichts liegt ihm ferner als der Gestus der Selbstübertrumpfung.

Stephan Kimmig, in Stuttgart aufgewachsen, aber als Regisseur an unterschiedlichen Orten Europas unterwegs, hat im Sprechtheater und in der Oper, anders als beispielsweise René Pollesch, Herbert Fritsch oder auch Jossi Wieler, keine unverwechselbare, sofort identifizierbare Handschrift, sondern sucht nach immer neuen Zugängen, experimentiert mit den ebenfalls sehr unterschiedlichen Stoffen angemessenen Formen. Richard Wagner ist nicht unbedingt der Erste, der einem zu ihm einfiele. An der Stuttgarter Oper hat er vor zweieinhalb Jahren mit Hans Werner Henzes Prinz von Homburg debütiert.

Die Wissenschaft ist sich weitgehend darin einig, dass der Antisemit Wagner in Alberich einen Juden diffamiert hat. Kimmig drückt sich um diese Erkenntnis nicht herum. Er zeichnet den Nibelungen (Leigh Melrose) gleich zu Beginn als Juden oder vielmehr als Karikatur eines Juden, der von den frivolen Rheintöchtern (Tamara Banješević, Ida Ränzlöv und Aytaj Shikhalizade) gequält und buchstäblich an der kurzen Leine gehalten wird. Später wird er mittels einer Gasflasche (!) fast zu Tode gebracht, damit Wotan ihm den Ring entwenden kann, der ihn zu „der Mächtigen mächtigsten Herrn“ machen soll. Alles, was man Alberich vorwerfen kann, ist, dass er geliebt werden will und dass er nach Gold giert. Letzteres aber teilt er mit sämtlichen Figuren des Vorspiels mit dem programmatischen Titel Rheingold. Darum geht es schließlich: um den Fluch, den er dem Gold – modern gesprochen: dem Kapitalismus – auferlegt.

Wotan (Goran Jurić) ist bei Stephan Kimmig ein Zirkusdirektor, wie einst Peter Ustinov in Lola Montez von Max Ophüls. Dazu passt, dass Mime (Elmar Gilbertsson) in Clownsmaske auftritt. Im Hintergrund klettern Akrobatinnen, wie in Keith Warners Egmont im Theater an der Wien, zwischen Stoffbändern auf und ab. Die Riesen Fasolt (David Steffens) und Fafner (Adam Palka), die Wotan eine Burg gebaut haben und von diesem um ihren Lohn geprellt werden sollen, kommen in Gabelstaplern auf die Bühne. Überhaupt bedient sich die Inszenierung so ungehemmt diverser Fahrzeuge, dass der Rollstuhl der einen Rheintochter nicht auffällt. Dabei hat die sich bloß, allerdings ganz real, den Knöchel gebrochen.

Stephan Kimmigs Konzeption verweist nicht in eine mythische Vergangenheit, sondern eher in eine dystopische Zukunft. Kurz vor dem Ende gesellt sich Erda (Stine Marie Fischer) auf dem Fahrrad und in heutiger Alltagskleidung zu den versammelten Akteuren, um die Götterdämmerung des „Dritten Tags“ zu prophezeien, eine deutsche antikapitalistische Kassandra oder Pythia.

Am Ende wird das Ensemble, Wotan eingeschlossen, mit gelben Anoraks eingekleidet, so dass es aussieht wie eine Delegation von der Kieler Förde. Wahrscheinlich soll es aber auch an die Pariser Gelbwesten erinnern. Ein Transparent mahnt: „Lasst alle Feigheit fahren.“ So viel Protest gab es im Ring noch selten. Zum Wagner von 1848 passt er durchaus. Denn auch das gehört zu den Kalamitäten der Wagner-Exegese: er wird zu selten historisch, in seiner biographischen Entwicklung betrachtet. Kimmig trägt da zu einer Korrektur bei.

Die Sängerinnen und Sänger erfreuen durchweg und erinnern daran, dass Stuttgart einst als Winter-Bayreuth galt. Es ist auch keine einzige Fehlbesetzung zu beklagen, selbst in den kleinsten Rollen bestechen die Interpreten durch stimmliche Perfektion.

Anhaltender Applaus für die Sänger, Beifall und Buhs für die Regie. Was genau die Buhs provoziert hat, werden wir nicht erfahren. War es der Mangel an Mittelalter? Der Zug ins Komische? Oder nahmen da einfach ein paar Couragierte die Aufforderung auf dem Transparent beim Wort?



Das Rheingold an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus

Thomas Rothschild - 22. November 2021
ID 13314
DAS RHEINGOLD (Staatsoper Stuttgart, 21.11.2021)
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Regie: Stephan Kimmig
Bühne: Katja Haß und Anja Rabes
Licht: Gerrit Jurda
Video: Rebecca Riedel
Bewegungsarbeit: Bahar Meriҫ
Dramaturgie: Miron Hakenbeck
Besetzung:
Wotan ... Goran Jurić
Donner ... Paweł Konik
Froh ... Moritz Kallenberg
Loge ... Matthias Klink
Alberich ... Leigh Melrose
Mime ... Elmar Gilbertsson
Fasolt ... David Steffens
Fafner ... Adam Palka
Fricka ... Rachael Wilson
Freia ... Esther Dierkes
Erda ... Stine Marie Fischer
Woglinde ... Tamara Banješević
Wellgunde ... Ida Ränzlöv
Floßhilde ... Aytaj Shikhalizade
Musiker*innen des Staatsorchesters Stuttgart
Premiere war am 21. November 2021.
Weitere Termine: 24., 27.11. / 12., 17., 19.12.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de/


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