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Roman

Die Unzerstörbarkeit

der Liebe





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"Wir schwören, so zu leben
dass alles, was uns Leben schenkt
auch unseren Kindern Leben schenken kann
Denn wir wollen
die Fehler der Menschheit nicht wiederholen
sondern jeden Tag Liebe empfinden
zu allem, was lebt."


(Maja Lunde, Der Traum von einem Baum, S. 107)



Dieses Gelöbnis [s.o.] geben die Menschen von Longyearbyen jedes Jahr zu Weihnachten ab. Sie leben an einem der nördlichsten und klimatisch unwirtlichsten Orte der Welt, der zur norwegischen Inselgruppe Spitzbergen gehört. Das Städtchen besteht aus 357 Bewohnern, die vom Rest der Welt getrennt leben, nachdem im Jahr 2045 der „Kollaps“ stattgefunden hat, der die Erde fast unbewohnbar machte. Sie wissen noch nicht, dass dieses Weihnachtsfest ihr letztes sein wird und am Ende dort nur ein Mensch übrig bleibt, obwohl sie in idealtypischer Weise im Einklang mit der Natur und in Gemeinschaftsverantwortung leben.

Der Traum von einem Baum ist der Abschluss einer Klima-Tetralogie der norwegischen Autorin Maja Lunde, deren 2015 in Norwegen erschienener Debütroman Die Geschichte der Bienen sich zu einem Weltbestseller entwickelte.

Darin erzählt sie auf drei Zeitebenen - der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft - von der Bedeutung und dem Schicksal dieser Insekten. In der Zukunft müssen die Menschen in China die Pflanzen mühselig selber bestäuben, wenn sie Nahrung haben wollen, denn es gibt keine Bienen mehr.

Der vierte Band findet nur in der Zukunft statt und hat als Ausgangspunkt das Jahr 2110, in dem nur noch zwei Jugendliche und drei Kinder in Longyearbyen leben, Tommy, Rakel und ihre jüngeren Geschwister. Nach einer Katastrophe hatte Rakel über Funk einen Notruf abgesetzt und Zugang zum Saatguttresor [Anm.: es gibt tatsächlich einen Saatguttresor am genannten Ort, den Svalbard Global Seed Vault, der 2008 in Betrieb genommen wurde] versprochen, wenn die fünf verbliebenen Menschen abgeholt werden. Wie sich die Geschichte bis zu diesem Punkt entwickelte, wird in zahlreichen Rückblenden erzählt.

Die Kinder von Longyearbyen singen zu Weihnachten "Jingle Bells", haben aber noch nie ein Pferd oder einen Tannenbaum gesehen. Die Menschen leben wie früher die Jäger und Sammler, sind auf das angewiesen, was die karge Natur zu bieten hat. Weizen, Kaffee, Zucker und viele andere Nahrungsmittel können dort nicht angebaut werden. Sie müssen jagen gehen und verwenden restlos alles von den Tieren, die sie schlachten, deren Leder sie zunehmend als Kleidung verwenden. Die bestehende Kleidung ist schon verschlissen und etliche Male geflickt. Nachschub gibt es nicht, auch keinen an Medikamenten und anderen Bedarfsgütern. Ein großes Gewächshaus liefert wenigstens genug Gemüse, dass sie nicht an Skorbut erkranken und wird von einer älteren Frau betrieben. Sie heißt Louise und kommt als Kind in dem zweiten Teil des Vierteilers, Die Geschichte des Wassers, vor, wo sie sich wegen der tödlichen Dürre in Richtung Norden aufmacht, weil es dort Gerüchten zufolge Wasser geben soll. Das gibt es in Spitzbergen reichlich, denn die Gletscher schmelzen und der Permafrost taut, was zu häufigen Erdrutschen führt, sodass das Leben dort mühsam und gefährlich ist.

Louise ist nach langer Odyssee in Spitzbergen gelandet und mittlerweile Mutter und Großmutter geworden. Ihr Sohn David, seine Frau und vor allem deren erstgeborener Sohn Tommy leben dort ein harmonisches Leben und gehen sehr liebevoll miteinander um. Louise ist eher eine Einzelgängerin, aber sie wurde mit dem Treibhaus betraut, das von zentraler Bedeutung für die Ernährung ist. Als der alte Hüter der Saatgutbank stirbt, wird sie seine Nachfolgerin und muss Saatgut aus aller Welt beschützen, Millionen verschiedener Sorten, die bei extremer Kälte in einem Tunnel in der Nähe aufbewahrt werden. Sie nutzen das Saatgut nicht für sich selber, weil es bei monatelanger Dunkelheit und sehr kurzem Sommer nicht gedeihen würde. Mit dem Rest der Welt hat die eingeschworene Gemeinschaft abgeschlossen, denn schließlich war es der Mensch, der den „Kollaps“ verursacht hat. Sie sind stolz darauf, dass sie ihre menschliche Natur überwunden und sich für ein höheres Gut entschieden haben, und Louise bildet ihren Enkel Tommy zu ihrem Nachfolger als Hüter des Saatguts aus:


„Das wird was. Dann übernimmst du die Verantwortung. Das ganze Leben in deinen Händen, Tommy...“ (S. 137)

„Das Überleben der Menschheit – um nicht Geringeres ging es bei diesem Tresor.“ (S. 493)



Die Handlung des Romans ist spannend genug, dass Lunde einen Thriller daraus hätte machen können. Es soll an dieser Stelle gar nicht so viel über den Inhalt verraten werden, denn es geht der Autorin ganz offensichtlich um die Schilderung dessen, was das Leben nach dem „Kollaps“ mit den Menschen macht. Tommy ist dabei sehr erstaunlich. Als er 13 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter bei der Geburt des dritten Kindes, und Tommy zieht den kleinen Henry fast alleine groß. Er gleicht einer echten Mutter mit der ständigen Fürsorge, dem Schlafdefizit und einer allumfassenden Liebe für seine Geschwisterkinder, denen er durch die Übernahme von Verantwortung eine weitgehend glückliche Kindheit ermöglicht.

Tommy bedient sich ausnehmend der gut bestückten Bibliothek des Ortes, und es ist die Lebensgeschichte des Russen Nikolai Iwanowitsch Wawilow (1887-1943), die ihn besonders fasziniert, weil dieser als Botaniker und Genetiker viele Forschungsreisen unternahm, Saatgut sammelte und Forschungen betrieb, wie man dem Hunger in der Welt begegnen könnte. Er fiel bei Stalin in Ungnade, weil er auf seinen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen beharrte, aber die Biologie war zu einem Politikum geworden, denn wer das Saatgut hat, hält die Macht in den Händen. Wawilow widerrief nicht und man ließ ihn verhungern.

Tommy ist sich also sehr bewusst darüber, was seine Aufgabe als Hüter bedeutet und die Tatsache, dass nun ein Schiff nach Spitzbergen unterwegs ist, das das Saatgut abholen will. Tommy stemmte sich mit aller Macht dagegen, weil er das Vertrauen in die Menschen außerhalb von Longyearbyen verloren hat. Doch ist der Zustand der Erde nach dem „Kollaps“ so, dass eigentlich nur das Saatgut eine Verbesserung bewirken könnte. Aber würden die Menschen nach all ihren schrecklichen Erfahrungen es dieses Mal besser machen? Der Roman endet hoffnungsvoll. Als die Expedition in Russland auf dem Landweg unterwegs ist, sieht sie eine Herde von Przewalski-Pferden, denen Lunde den dritten Teil des Klima-Quartetts, Die letzten ihrer Art, gewidmet hat. Das Urpferd hat also doch überlebt. Und es kommt zu einer Begegnung mit Tao, der Protagonistin aus Die Geschichte der Bienen. So fügt sich alles zusammen. Der letzte Satz der Tetralogie lautet: „Wir haben reichlich Zeit.“ (S. 549). Das klingt nicht danach, dass die endgültige Vernichtung kurz bevorstünde. Neben der Verbitterung und Traumatisierung sind in Maja Lundes Zukunftsvision die Achtsamkeit und die altruistische Liebe, insbesondere zur Natur, quicklebendig.


Helga Fitzner - 3. Mai 2023
ID 14175
btb-Link zu Maja Lundes Der Traum von einem Baum


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