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Interview

DEREK JACOBI


Das eigene Leben leben


Derek Jacobi als Leo Gurski in Die Geschichte der Liebe | (C) Prokino Filmverleih


Derek Jacobi, Jahrgang 1938, gehört zu den renommiertesten zeitgenössischen Bühnendarstellern Großbritanniens und ist insbesondere für seine legendären Shakespeare-Darstellungen bekannt, zu denen Hamlet, Richard II, Richard III, Macbeth und König Lear gehören. Die Schauspiel-Ikone Laurence Olivier war in den 1960er Jahren sein Mentor und Freund, und später war es Jacobi, der einen jungen Nachwuchsschauspieler etwas unter seine Fittiche nahm, Kenneth Branagh. Während Derek Jacobi als Fernsehschauspieler im Vereinigten Königreich große Bekanntheit genießt, hat er bislang nur kleinere Kinorollen übernommen. In seinem neuesten Film Die Geschichte der Liebe [Kinostart: 20. Juli 2017] spielt er nach der Arthouse-Produktion Love Is the Devil von 1998 erst das zweite Mal eine Hauptrolle für die große Leinwand. Er weist öfter darauf hin, dass er für Die Geschichte der Liebe nur die zweite Wahl war, denn ursprünglich war sein Kollege John Hurt für die Rolle des Leo Gurski vorgesehen, der diese aus gesundheitlichen Gründen ablehnen musste und vor ein paar Monaten viel zu früh verstarb. Aus diesem Grunde begannen die Dreharbeiten so zügig, dass Jacobi kaum Zeit zur Vorbereitung blieb. Mit dem rumänisch-französischen Regisseur Radu Mihăileanu hatte er noch nicht zusammengearbeitet.


* * *


Sir Derek, war es schwierig, sich so kurzfristig auf die sehr komplexe Rolle des Leo Gurski einzustellen?

Derek Jacobi:
Es ging. Radu kannte das Skript natürlich in- und auswendig und war sehr hilfreich. Er gehört nicht zu jenen Regisseuren, die eine Leistung aus den Schauspielern „herauspeitschen“. Im Gegenteil ist er ein sehr einfühlsamer Mensch, sehr fürsorglich und sanft. Er weiß aber auch sehr genau, worauf er hinaus will, und das hat er am Ende auch bekommen.


Das Judentum und die Shoah gehören zu den zentralen Themen des Films. Sie haben mal ihren Stammbaum erstellt bekommen. Hat sich Ihre Vermutung bestätigt, dass der Name Jacobi jüdischen Ursprungs ist?

DJ:
Das war für die BBC-Serie Who Do You Think You Are?. Die picken sich Leute heraus und begeben sich auf die Spuren von deren Vorfahren. Bei mir entschieden sie, dass die Linie der Jacobis zu glanzlos war. Bei der Großmutter meiner Mutter stießen sie aber auf eine Vorfahrin aus Frankreich, die wiederum einen Ahnen hatte, der am Hofe des französischen Königs Ludwig XIV. arbeitete. Bei den Jacobis gingen sie nicht so weit zurück. Mein Urgroßvater stammt aus Preußen und war Schuhmacher. Nun vermuteten wir, dass er vielleicht wegen Pogromen gegen Juden nach England gekommen sei, aber es stellte sich heraus, dass die Familie katholisch war. Es gibt viele Jabobys, deren Name mit „y“ endet, die jüdisch sind. Wir sind es aber nicht.


Leo Gurski hat viele Gemeinsamkeiten mit dem römischen Kaiser Claudius, den Sie mal gespielt haben. [In der Hauptrolle in der BBC-Serie Ich Claudius, Kaiser und Gott erlebte Jacobi 1976 einen kometenhaften Aufstieg als Fernsehstar.] Beide verlieren fast alle Familienmitglieder, es geschehen die schlimmsten Gewalttaten um sie herum, aber sie bleiben beide gut im Herzen. Wie schaffen die das?

DJ:
Stimmt, der Zusammenhang ist mir bisher noch nicht aufgefallen. Leo ist wie Claudius ein Überlebender. Was immer um ihn herum geschieht, er ist derjenige, der am Leben bleibt. Während alle anderen um ihn herum zugrunde gehen, ist er gegen jede Wahrscheinlichkeit noch da. Leo erleidet ständig Verluste, aber er hat Seele und Herz, und das ist eine Art Elektrizität, die verhindert, dass bei ihm das Licht ausgeht. Wenn er wütend, grantig oder zappelig wird, ist er im Grunde bei sich selbst. Er erlaubt seinen Gefühlen hochzukommen, und er lässt sie heraus. Er gehört nicht zu den Menschen, die ihre Gefühle für sich behalten und die dann innerlich von ihnen zerfressen werden. Er lässt sie heraus und lebt damit. Das ist wohl der Grund, wieso er überlebt hat, denn so kann es nicht an ihm nagen. All die furchtbaren Dinge, die ihm widerfahren: Er akzeptiert sie, reagiert darauf und lässt sie dann los. Dann kommen neue dazu, und er reagiert darauf. Er hat eine bewundernswerte Lebenseinstellung und lebt sein eigenes Leben. Er ist er selbst, erschafft sich sogar einen eingebildeten Freund, was eine wundervolle Idee ist.




Im hohen Alter darf Leo Gurski (Derek Jacobi) noch einen großen Glücksmoment erleben, hier mit der jungen Alma (Sophie Nélisse) | (C) Prokino Filmverleih


Es muss ein unendlicher Schmerz sein, den Leo mit sich herumträgt. Er hat zwar unter den schlimmsten Umständen die Massaker an den Juden überlebt, aber seine große Liebe Alma an einen anderen verloren und dann noch das Buch, das er geschrieben hat. Müssen Sie eigene Gefühle aufrufen, um das spielen zu können?

DJ:
Das versuche ich zu vermeiden, so gut es geht. Wir nennen das „emotional recall“, wenn wir Schauspieler uns an erlebte Gefühle erinnern und sie wieder aufrufen. Wenn ich z.B. weinen soll, dann muss ich mich an etwas erinnern, was mich zum Weinen gebracht hat. Dann kann ich es nutzen. Das ist eine Eigenart von Schauspielern: Wenn sie im wirklichen Leben eine echte Krise mitmachen, speichern sie das im Hinterkopf ab, weil sie es vielleicht mal brauchen könnten.

Ich musste in einem Theaterstück am Ende sterben. [A Voyage Round My Father, London, 2006.] Die einzige Person, die ich selbst mal sterben sah, war mein Vater. Ich sah genau, wie er starb, wie das vor sich ging, wie das aussah und wie es klang. Ich „befragte“ dann meinen toten Vater: Dad, würde es dir was ausmachen, wenn ich das benutze? Als ich das im Theater dann gemacht haben, waren die Leute besorgt.


Das kann ich bestätigen. Mir haben Sie Angst eingejagt, und auch andere Zuschauer waren bestürzt.

DJ:
Ja, die Leute glaubten, dass ich wirklich sterbe, weil das so echt aussah. Schauspieler brauchen also ihre Erinnerungen, und sie müssen wie offene Gefäße dafür sein. Für alles, für ihre Gefühle, für alles, was mit ihnen geschieht. Sie haben so eine Art Bank, wo sie das als Guthaben anlegen.


Sie haben nicht nur Opfer, sondern auch ganz grausame Gestalten gespielt. Von welcher „Bank“ heben Sie das ab?

DJ:
Es ist schon sonderbar, aber ich habe fürs Fernsehen Hitler und auch Pinochet gespielt, zwei der größten Monster unserer Zeit. Wenn man so einen spielt, dann muss man den Mann spielen. Da muss man seine eigenen Moralvorstellungen beiseite lassen.

Der Hitler, den ich spielte, war eine Art domestizierter Hitler, der Hunde liebte und Witze riss. Das war nach der Autobiografie von Albert Speer, der große Bewunderung für ihn hegte. Trotzdem musste ich zum Wesenskern Hitlers vordringen. Nichts davon hat mit mir zu tun, aber ich kann mir vorstellen, wer sie sind und einen Weg finden, sie zu imitieren. Es ist eine Welt des Vorgaukelns.


Sie sind ein so genanntes „Kriegskind“ und müssen doch selbst unter Hitler gelitten haben.

DJ:
Ich bin als Kleinkind für ein Jahr aus London evakuiert worden, aber ich war keines dieser armen Kinder, die mit einem Schild um den Hals in die Fremde geschickt wurden. Ich bin mit meiner Tante und meinem Cousin evakuiert worden. Meine Mutter blieb in London und arbeitete dort, mein Dad war in der Armee.


Wann und wie haben Sie von den Gräueltaten und den Konzentrationslagern erfahren?

DJ:
Nach dem Krieg. Ich wurde 1938 geboren, und der Krieg brach 1939 aus. Ich erinnere mich noch daran, dass meine Familie mit mir auf dem Arm eine Schutzvorrichtung in unserem Garten aufsuchte. Ich war ungefähr drei Jahre alt. Ich erinnere mich noch an die "doodle bombs" [V1 der Deutschen Luftwaffe]. Das waren fliegende Bomben, die flogen über einem und gaben ein furchtbares Geräusch von sich. Der schlimmste Moment war der, wenn das Geräusch auf einmal aufhörte. Dann wusste man, dass die Bombe herunter kommen würde. Das konnte direkt über dir sein oder woanders. Das waren abscheuliche Dinger. - Was war nach dem Krieg!? Im Jahr 1945 war ich sieben Jahre alt, und mein Vater ging mit uns zum Piccadilly Circus in London. Das war der Tag, an dem die Lichter wieder angemacht wurden und alle auf der Straße tanzten und das Kriegsende feierten. Danach habe ich von den Konzentrationslagern erfahren. Da war ich sieben oder acht Jahre alt.


Haben Sie eine Erklärung, wie Leo es schafft, das emotional zu überleben? Er verliert Alma an einen anderen, sein Buch ist weg, und er darf seinem Sohn Isaac nicht sagen, dass er sein Vater ist.

DJ:
Leo ist ein Charakter mit ganz vielen Facetten. Ich denke, dass er leicht masochistisch veranlagt ist. Er nimmt aus Liebe schon sehr gern den Schmerz auf sich. Das Fantastische an ihm ist, dass er nicht nur ein Mann von großen Gefühlen und großem Empfindungsvermögen ist, er ist auch Literat. Er beherrscht Sprache und kann mit ihr umgehen. Ich bewundere Schriftsteller, da ich selbst nicht schreiben kann. Ich bewundere jeden, der nur mit Worten ganze Welten und Leben erschaffen kann.


Solche Welten erschaffen Sie durch Ihre Schauspielkunst.

DJ:
Ich lerne immer noch. So gesehen ist der Beruf des Schauspielers sehr verjüngend. Das Wort, das mich am besten beschreibt, ist „schüchtern“. Aber wenn ich spiele, kann ich im besten Fall große Wut und große Gefühle vermitteln.


Können Sie danach wieder Abstand von der Rolle nehmen und Sie selbst sein?

DJ:
Unbedingt. Man muss sich davon abgrenzen. In dem Moment, wo ich das Theater oder Studio verlasse, bin ich wieder ich selbst.


Vielen Dank für die vielen großen und zarten Gefühle, für das Weinen und Lachen.



*


Das Interview fand am 3. Juli 2017 anlässlich des Jüdischen Filmfestivals in Berlin, das mit dem Film Die Geschichte der Liebe eröffnet wurde, statt.
Interviewerin: Helga Fitzner - 17. Juli 2017 (3)
ID 10149
https://de.wikipedia.org/wiki/Derek_Jacobi


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