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Dokumentarfilm

Ein Chile

ohne Angst



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Im Oktober 2019 löste die Preiserhöhung für Metro-Tickets in Chile einen blutigen Aufstand aus. Es waren nur 30 Pesos, umgerechnet 0,035 Euro, sorgte aber für Unruhen und Gewalttätigkeiten mit vielen Verletzten und 32 Toten. Das war der Funke, der das Land in Brand setzte, Angriffe auf Busse, Bahnen, Geschäfte, Apotheken und Banken sowie Plünderungen auslöste und massive Einsätze der Polizei und des Militärs zur Folge hatte. Die für Europäer geringe Summe von etwas über 3 Cent lässt einen Rückschluss auf die zunehmende Verarmung der Bevölkerung zu, die der Dokumentarfilmer Patricio Guzmán schon seit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet beklagt, der das Land von 1973 bis 1990 mit eiserner Faust regierte.

Der 1941 geborene Guzmán gehörte zu jenen Regimegegnern, die 1973 unter horrenden Bedingungen im Nationalstadion in Santiago de Chile eingepfercht wurden. Die Sportstätte diente vorübergehend als Konzentrationslager, die später in der Atacama-Wüste errichtet wurden. Da Guzmán neben der chilenischen auch über die spanische Staatsbürgerschaft verfügte, konnte er nach Spanien ausreisen. Danach ließ er sich in Frankreich nieder und machte Filme, vorwiegend über Chile und dessen Kampf um demokratische Reformen, denn es gilt bis heute die Verfassung, die unter der Militärdiktatur von Pinochet entstand. Guzmán drehte erst ein Jahr nach dem Aufstand vor Ort, hat aber viel authentisches und eindrückliches Filmmaterial zusammengestellt und selbst etliche Interviews mit weiblichen Beteiligten geführt.

In der Dokumentation Mi pais imaginario - Das Land meiner Träume geben die Interviewpartnerinnen drei Gründe für die Revolution an. Es habe sich eine exzessive Elite in der Politik gebildet, dann eine Machtkonzentration auf überwiegend ältere Männer, die teilweise miteinander verwandt sind. Dadurch kam es zu einer weitgehenden Exklusion der Bevölkerung, und die indigenen Völker waren von der Teilhabe grundsätzlich ausgeschlossen. Der Aufstand kommt vom Volk, heißt es im Film, wird von niemandem organisiert und hat keine Anführer oder Anführerinnen. Das macht es allerdings schwierig, mit den Herrschenden Verhandlungen aufzunehmen. Aber im Prinzip wollen sie gar nicht verhandeln, sie wollen die Dinge ändern. Sie möchten endlich leben, anstatt nur zu überleben. Die Machthabenden lassen ihnen offensichtlich kaum noch Luft, sodass der Selbsterhaltungstrieb sie zum Widerstand zwingt.

Das neoliberale System und das Patriarchat sollen abgeschafft werden, das fordern vor allem die Frauen, die besonders unter den Unterdrückungsmechanismen leiden. „Das Patriarchat ist ein Richter, der uns (die weiblichen Menschen) bei unserer Geburt verurteilt“. „Der Unterdrückerstaat ist ein vergewaltigender Mann“ sind Zeilen aus einem Gedicht von vier Aktivistinnen, das von Frauen des Theaterkollektivs LasTesis mit verbundenen Augen in Form einer Performance gesungen und von einer riesigen Menschenmenge kopiert wurde. Das war ein eindrückliches, friedliches und kreatives Aufbegehren. Eine Schriftstellerin formuliert es so: „Es war ein prickelndes Gefühl, als ob die Seele in den Körper zurückkehrt.“

Es gab von Seiten der Demonstrierenden auch Ausschreitungen, so warfen sie mit Steinen, die sie vorher aus dem Straßenbelag gehämmert hatten. Aber einige Proteste verliefen auch friedlich, wenngleich laut. Die Menschen skandierten, machten mit Kochgeschirr einen Höllenlärm. Die Forderung ist die nach einer Grundsicherung, die die elementaren Lebensbedürfnisse abdeckt. Sie kämpfen für das, was ihnen zusteht, aber nicht gewährt wird, und vor allem für ihre Würde. Guzmán erzählt im Kommentar, dass sie ihre Angst verloren haben, und das trotz einer brutalen und unverhältnismäßigen Polizeigewalt. Der Filmemacher spricht den Off-Kommentar selbst und hätte sich nie vorstellen können, noch einmal das zu erleben, was schon vor 40 Jahren unter Pinochet an staatlicher Gewalt geschehen war.

Dieses Mal sei es aber so, dass Chile erwacht ist. Eine Rettungssanitäterin schildert, dass sie an ihrer Arbeit gehindert wurde, weil Militär mit Kriegswaffen im Einsatz war. Die Sanitäter und Sanitäterinnen mussten selbst Waffen und Gasmasken tragen, um Verletzte retten zu können und wurden gezielt beschossen. Entsprechende Aufnahmen belegen die Aussagen. Aber ohne die Rettungseinsätze hätte es noch mehr Tote gegeben, erklärt sie. Die vermummte Frau auf dem Filmplakat hat einen neunjährigen Sohn und weiß, dass sie verletzt von einer Demo zurückkommen oder sogar getötet werden könnte. „Unser Antrieb ist die Liebe, unser Antrieb ist der Mut und die Notwendigkeit zu kämpfen“, erklärt sie. - 73 Prozent der Neugeborenen wachsen ohne Vater auf und müssen von allein erziehenden Müttern durchgebracht werden. Deswegen sehen sich diese Mütter gezwungen, auf die Straße zu gehen und sich unwägbaren Gefahren auszusetzen. Denn sie und ihre Kinder haben unter den gegebenen Bedingungen keine Zukünftigkeit. Sie bekommen keine Unterstützung vom Staat. Auch ein Jahr nach dem Aufstand gibt es keine einzige politische Maßnahme, die die Not der Bevölkerung lindern könnte. Nicht eine einzige, beklagt eine ältere Frau.

Es ist klar, dass Guzmán als ehemaliger KZ-Häftling parteiisch ist und mit dem Volk sympathisiert. Er hat auch mit teilweise ästhetischen Bildern die Revolution stilisiert und überhöht und damit auch einen künstlerisch gestalteten Dokumentarfilm erschaffen. In seinem letzten Film Kordillere der Träume (2020) ) ist er schon auf die zunehmende Verelendung der Bevölkerung eingegangen und macht einen ungebremsten Raubtierkapitalismus dafür verantwortlich, der kontinuierlich zu Protesten führte. Dieses Mal aber lief das Fass über, Guzmán zeigt anhand von Drohnenaufnahmen, wie über eine Million Menschen auf der Straße waren. Irgendwann mussten die Machthabenden klein beigeben und es kam zu einer Abstimmung, bei der 80 Prozent FÜR eine neue Verfassung stimmten, die die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegelt. An dieser hatten eine Gruppe von Bürgern und Bürgerinnen gearbeitet mit einer indigenen Frau als Präsidentin an der Spitze, die dem Volk der Mapuche angehört. Im März 2022 wurde der junge, linke Gabriel Boric zum Präsidenten gewählt, der sich u. a. für die Frauenrechte einsetzen will. Mit dieser hoffnungsvollen Note endet der Film.

*

Danach geschah etwas Seltsames: Beim Referendum über die neue Verfassung wurde diese von 80 % der Wähler und Wählerinnen auf einmal abgelehnt. Linke Kreise machen z. B. eine übermächtige Medienkampagne gegen die Verfassung und den neuen Präsidenten dafür verantwortlich. Das Wahlergebnis steht im Widerspruch zu allem, wofür die Chilenen und Chileninnen angstfrei gekämpft hatten, zu den Toten und vielen Verletzten, die der Aufstand gekostet hat. Angesichts der verzweifelten Lage ist kaum anzunehmen, dass die Bevölkerung aufgeben kann. Die Ausgebeuteten werden sich etwas einfallen lassen müssen, um ihr "pais imaginario" zu erschaffen, ein Land nach ihren Vorstellungen und Visionen, das auf Inklusion, Teilhabe und Gemeinwohl ausgerichtet ist. - Vermutlich ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen und ein mögliches Thema für einen weiteren Film.



Eine riesige Menschenmenge demonstriert und feiert in der Innenstadt von Santiago de Chile | (C) Real Fiction Filmverleih

Helga Fitzner - 13. April 2023
ID 14144
https://www.trigon-film.org/


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