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UNSERE NEUE GESCHICHTE (41)

Unterirdische

Wälder?!



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Wenn der Regisseur nicht Volker Schlöndorff hieße und wenn dieser gerade 83 Jahre alt gewordene Grandseigneur des Kinos nicht so einen vorzüglichen Ruf genösse, könnte man seinen neuen Film Der Waldmacher für ein Kinomärchen halten. Die Begegnung mit dem australischen Agrarwissenschaftler Tony Rinaudo veranlasste den für seine Literaturverfilmungen berühmten Schlöndorff zu seinem ersten Dokumentarfilm, und auch dieses Genre beherrscht er virtuos und meisterhaft. Rinaudo hat altes Wissen wiederentdeckt: Erodierter Boden ist keineswegs tot, oft haben unter der Oberfläche Baumwurzeln und Samen überlebt. Wenn die in der Regenzeit sprießen und die Landwirte sie davor schützen, abgefressen oder verbrannt zu werden, können aus ihnen wieder Bäume entstehen. Sie müssen nur regelmäßig beschnitten werden, damit die Kraft in den Stamm geht und anfangs nicht zu viele Blätter die Nährstoffe verbrauchen. Erfolgreich angewendet, führt diese Methode nicht nur zum Aufbau von Humus, der Rückkehr von Wasserquellen, zu ertragreicheren Ernten im Schutz der Bäume usw., es entsteht auch insgesamt ein positiver Domino-Effekt, wenn Nahrung und Wasser gesichert sind. Die Menschen arbeiten in Gemeinschaftsinitiative und fühlen sich nicht mehr zur Migration gezwungen, die Wüstenbildung und Sandstürme nehmen wieder ab, die Natur regeneriert sich, was sich kühlend auf das Klima auswirkt.

Doch ein Märchen? Tony Rinaudo zog 1980 mit Frau und Kind nach Niger, dem gefährdeten westafrikanischen Binnenstaat, zu dem ein Teil der Sahara und der Sahelzone gehört. Er wollte zur Wiederaufforstung beitragen und führte das zunächst mit Setzlingen durch, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. Eines Tages sah er einen sprießenden Busch, aber der Agrarwissenschaftler erkannte sofort, dass es sich um einen Baum handelte. Es war also Wurzelwerk vorhanden, mit dem man den Baum zum Wachsen bringen könnte. Mehr noch, darunter befindet sich oft ein riesiges unterirdisches Wurzelnetzwerk, mit dem man ganze Wälder wiederaufforsten konnte, ohne einen Setzling, sondern ganz im Einklang mit der bestehenden Vegetation. Als er damit Versuche anstellte und es der nigrischen Landbevölkerung nahe brachte, stieß er auf wenig Resonanz. Doch in den Jahren 1984 und 1985 wütete eine furchtbare Hungersnot, und entsetzliche Bilder, vor allem aus Äthiopien, gingen um die Welt. Danach waren die ebenfalls betroffenen Einheimischen in Niger offener für die Idee der wundersamen Baumvermehrung, in die man außer Arbeit und Schutz kaum etwas investieren muss.

Es entstand eine Art Bewegung, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda und zahlreiche Radiosendungen zu dem Thema verbreitet wurde. Rinaudo lebte mit seiner Familie zwanzig Jahre lang in Niger, spricht fließend Hausa und ist bis heute ein gefragter Interviewgast. "FMNR, Farmer Managed Natural Regeneration" heißt die Methode, für die Rinaudo 2018 den Right Livelihood Award erhielt, bekannter als alternativer Nobelpreis. Wer Ecosia als Suchmaschine benutzt, unterstützt auch Projekte dieser Art. Der Waldmacher hat FMNR in 25 Ländern eingeführt, allein in Niger wurden 6 Millionen Hektar erodierte Fläche wieder begrünt. Afrika ist riesig, aber immerhin. Da über 70 Prozent der afrikanischen Bevölkerung auf dem Land lebt, ist das ausbaufähig. Rinaudo und Schlöndorff machen im Film klar, dass der Schlüssel zur Rettung des Kontinents die Landwirtschaft ist.

Schlöndorff zeigt auch Dokumentarfilmmaterial, in dem ausländische Firmen die Einheimischen dazu bewegt haben, ihr Land zu roden und Produkte anzubauen, für die die afrikanischen Böden teilweise nicht geeignet sind. Beim Anbau von Mais z.B. muss teurer Dünger verwendet werden. Pflegeleichte heimische Produkte, wie die Spelzgetreidearten Hirse und Sorghum, die sättigend und an das Klima und die Bodenbedingungen angepasst sind, werden dadurch zurückgedrängt. Durch Rodungen und Monokulturen erstarkte die Wüstenbildung, und die erodierten Böden liefern immer geringere Erträge. Aber nicht nur die Interessen ausländischer Konzerne schaden den AfrikanerInnen, die Menschen sind in einer Armutsfalle gefangen, die im Film „race to the bottom“ genannt wird, frei übersetzt eine Abwärtsspirale ist.

Die Filmcrew erfährt, dass ein Teil der über Jahre hinweg gepflegten Bäume abgeholzt wurde. Auf dem Markt sehen sie die Überreste, die als Baumaterial oder Brennholz verkauft werden. Schlöndorff und Rinaudo sind enttäuscht, aber irgendwie muss die nächste Mahlzeit auf den Tisch kommen. Ein Teil der wiederaufgeforsteten Gebiete wird bewacht. Ein Waldhüter fordert einen Hirten auf, das Gebiet mit seinen Tieren wieder zu verlassen. Aber auch die Tiere haben Hunger, und schließlich sollen die Ziegen Milch geben. Insgesamt ist die Lage unruhiger und gewalttätiger geworden. Mit durchschnittlich sechs Kindern pro Familie explodiert die Bevölkerung, und gerade die Jugend hat wenig Perspektive. Afrika ist flächenmäßig so groß, dass die bis 2050 errechnete Verdoppelung der Bevölkerung vom Platz her kein Problem wäre, nur dass die Ressourcen nicht schnell genug nachwachsen können, um Schritt zu halten. Wenn die vorhandenen dann noch abgebaut werden, geht es weiterhin bergab. Insgesamt ist FMNR erfolgreicher als The Great Green Wall, die sich von der West- bis zur Ostküste entlang der Sahelzone erstrecken und diese begrünen sollte. Es sind nur 4 Prozent realisiert worden. Trotzdem zählt jede Initiative, die der Natur zur Regeneration verhilft, wie der Film des Australiers Jared P. Scott The Great Green Wall dokumentierte.

Renaturierung nach diesem Projekt wird heute in modifizierter Form mit kleineren Flächen betrieben. Die Wiederaufforstung mit Setzlingen kostet im Schnitt 500 Dollar pro Hektar, die magisch anmutende Wiedererweckung des „unterirdischen Waldes“ rund 2 Dollar pro Hektar.



Volker Schlöndorff und Tony Rinaudo sind in Afrika unterwegs | © Weltkino Filmverleih

*

Rinaudo und Schlöndorff begegnen den Menschen mit Bescheidenheit und auf Augenhöhe. Sie hören ihnen zu und lassen sie auch im Film zu Wort kommen, darunter auch sehr engagierte und kompetente Frauen. Die jungen afrikanischen FilmemacherInnen Alasanne Diago, Idris Diabaté, Nadia Beddiaf Tamisier und Laurene Manja Abdallah steuern eigene Kurzfilme bei: „filmische Postkarten aus Afrika“. Neben dem Franzosen Bruno Coulais sorgt der Senegalese Ablaye Cissoko für einen wunderbaren Soundtrack. Als Erzähler fungiert Schlöndorff selbst, zusammen mit der Schauspielerin Angela Winkler. Kameraführung: Stefan Ahrens, Michael Kern, Jonas Aly Sagnon und Schlöndorff selbst. Schlöndorff erinnert daran, dass viele Länder in Europa im 19. Jahrhundert in einer ähnlichen Lage waren wie afrikanische Staaten heute, was ebenfalls zu Hunger, Migration und Unruhen führte. FMNR ist eine Möglichkeit, die den Betroffenen helfen kann, sich von der Fremdbestimmung zu lösen, sich selbst zu ermächtigen und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Helga Fitzner - 4. April 2022
ID 13557
https://www.weltkino.de/filme/der-waldmacher


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