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Er ist allein



Hamlet (Sandra Hüller) zwischen Ulvi Teke (Guildenstern, links) und Konstantin Bühler (Rosencrantz) in Hamlet am Schauspielhaus Bochum | Foto © JU Bochum

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Ermordet von des eigenen Bruders Hand - der Geist des Vaters möchte Hamlet für eine grausame Rache instrumentalisieren. Nimmt Hamlet den väterlichen Auftrag an? Wird er so zum Rächer, Mörder, Täter aber auch König? Für Hamlet scheint die Zeit aus den Fugen. Er hadert mit sich. Ein familiäres System aus Verlogenheit, Manipulation, Lügen, Vorspielen und Verletzen wird offenbar. Hamlets Mutter Gertrude heiratete den Onkel und Mörder ihres Gatten. Hamlet kann nicht loslassen oder vergeben. Er will Aufklärung. Doch jede ehrliche und direkte Kommunikation misslingt. Auch die Kinder des unscheinbaren und diplomatisch im Hintergrund agierenden Staatsrates Polonius bekommen Unterweisungen von ihrem Vater. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Die Schauspieler des Ensembles treten in legerer, zeitgenössischer Kleidung auf und blicken anfangs konzentriert ins Publikum. Bald sitzen sie selbst in wechselnden Gruppierungen während der Vorführung in der vordersten Reihe des Parketts. Johannes Schütz entwarf für Johan Simons' Inszenierung am Schauspielhaus Bochum eine karge, offene Bühne mit weißem Bühnenboden. Es gibt eine Lichtkugel und ein kupfernes Metallrechteck. Diese schwebenden und drehbaren Objekte werden mehrfach von den Darstellern bewegt. So werden mögliche Wechsel von Licht und Szenerie dezent angedeutet. Zahlreiche dunkle Kugeln in Schädelgröße liegen im Bühnenhintergrund. Einzelne werden später von einem der beiden Totengräber über die Bühne gerollt. Bühnenbild und Kostüme entziehen sich so jedweder Eindeutigkeit. Der Zuschauer kann sich selbst eigene Assoziationen zu der gespielten Handlung machen. Die Ausgangssituation erinnert anfangs ein bisschen an das absurde Theater eines Samuel Beckett.

Hamlet wird meisterhaft von Sandra Hüller verkörpert. Sie mimt ihn meist recht unbeweglich, gefasst und ruhig; mal gebückt gehend, oft das Zusammenspiel beobachtend. Sie trägt eine schlichte graue Hose und einen schwarzen Pulli. Trotzdem schafft sie es durch ausdrucksstarken Vortrag und mimisches Spiel die komplexe Gefühlswelt ihrer Figur emphatisch und sensibel greifbar zu machen. Hamlet trauert um die Abwesenheit seines Vaters und fühlt sich dabei nicht ernst genommen. Voller Sorgen und Emotionen wird er von der Wucht eines Alleingelassenwerdens in der Welt übermannt. Energetisches Wollen, drängende Entschlüsse und Schwankungen des Für und Wider arbeiten in ihm. Er monologisiert über Repräsentation und Illusion, Wahrheit und Falschheit, Deutungshoheit und die Umkehr von Hierarchien. Er möchte, dass alle die Wahrheit anerkennen, die eigenen Fehler eingestehen und Verantwortung übernehmen. Und er kann die Wahrheit nicht verdrängen wie seine Mutter Gertrude (Mercy Dorcas Otieno) es tut. Er kann auch nicht in ein anderes Land gehen wie sein Freund und Polonius Sohn Laertes (Dominik Dos-Reis).

Johan Simon inszenierte eine radikal textgekürzt Version von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, mit Auszügen aus Die Hamletmaschine von Heiner Müller. Zwei Totengräber sind wie Engel oder Schatten beinahe unaufhörlich auf der Bühne präsent. Sie agieren jedoch mit nur wenigen Texten und sketchhaften Bewegungen vor allem wie Clowns. Immer wieder ruft einer von ihnen (Ann Göbel): „Er ist allein.“ Quirlig, leidenschaftlich und eigensinnig tritt auch Gina Haller als Ophelia auf. Sie scheint am Anfang noch die einzige Verbündete Hamlets zu sein. Als er in Gedanken an seine Mutter „Schwachheit, dein Name sei Weib!“ ausruft, sackt sie – hinter Hamlet stehend – wie zur Illustrierung in sich zusammen, nur um sogleich wieder vital aufzuspringen. Gina Haller darf als Ophelia auch die Rollenanteile des Horatio, des engsten Studienfreundes von Hamlet, spielen. Die Figur des Horatio wird in der Bochumer Inszenierung nicht besetzt. Ophelia lässt sich jedoch bald von ihrem Vater Polonius (Bernd Rademacher) gegen Hamlet instrumentalisieren. Hamlet erkennt, dass sie missbraucht werden könnte. Er bittet sie vom Königshof wegzugehen, auch weil er selbst in seiner aktuellen Verfassung nicht gut für sie sein könnte.

Wie weit Sandra Hüller in der Rolle des Hamlet geht, zeigt sich, wenn das Publikum nach anderthalb Stunden den Raum verlässt, um sich etwa Pausengetränken und –imbiss zu widmen und damit den mit sich ringenden Hamlet alleine auf der Bühne zurücklässt. Nach und nach ließen zuvor der ganze Hofstaat von Dänemark Hamlet alleine. Der Onkel und Königsmörder Gunter (Stefan Hunstein) tat so, als sei Hamlet verrückt und völlig irre. Polonius glaubte, Hamlet sei in seine Tochter verliebt. Das Publikum wendet sich von Hamlet ab, weil es das Stück als Schauspiel sieht und in die Pause möchte.

Hamlet, der die schreckliche Tat seines Onkels erkannt hat und mit diesem Geheimnis lebt, versucht damit durchzudringen zu den Menschen in seiner Umgebung; zunächst indem er sein Wissen Ophelia mitteilt, indem er die Nähe zu seinen Freunden sucht, die ihm wohlwollend aber zunehmend irritiert und mit Distanz begegnen. Hamlet wird für krankhaft verliebt gehalten und spielt dies dann auch. Er wird für verrückt gehalten, und flüchtet sich auch in diese Rolle. Schließlich wird er für eine Schauspielerin gehalten, wenn das Publikum in die Pause geht. Es entsteht eine Situation, die den Performances von Marina Abramović ähnlich ist. Man kann im Raum bleiben und diese Spannung aushalten; versuchen, dem begegnen zu wollen, was von allen verlassen wurde und wird. Eine Verletzung bekommt keinen Raum und darf so nicht mit ins Leben geholt werden. Man kann versuchen dem nachzuspüren, was entsteht, wenn eine seelische Verletzung und ein Wissen um diese Zusammenhänge in einem Menschen sind. Trotzdem ist die Erfahrung der Verletzung so machtvoll, dass sie über Hamlet hinaus auf den Täter, die Mutter, Ophelia, alle Freunde und über den Hofstaat hinweg bin ins Publikum hinein wirkt.

* *

Übrigens: William Shakespeare verlor seinen einzigen Sohn Hamnet, als dieser zehn Jahre alt war. Fünf Jahre später schrieb er Hamlet und spielte selbst als Geist mit. Das Drama war für ihn von besonderer Bedeutung. Viele Frauen, wie Sarah Bernhardt, Asta Nielsen oder Angela Winkler schillerten einst in der Rolle. Sandra Hüller kann sich mühelos in die Riege dieser prominenten Darstellerinnen einreihen, setzt jedoch darüber hinaus berührende eigene Akzente und spürt der Frage nach, was es für einen existentiell verunsicherten Menschen bedeutet, wie sich die anderen Menschen ihm gegenüber verhalten.



Hamlet am Schauspielhaus Bochum | Foto © JU Bochum

Ansgar Skoda - 20. Juni 2019
ID 11519
HAMLET (Schauspielhaus Bochum, 18.06.2019)
Regie: Johan Simons
Textfassung: Jeroen Versteele
Bühne und Kostüme: Johannes Schütz
Musik: Mieko Suzuki
Dramaturgie: Jeroen Versteele
Mit: Konstantin Bühler, Mercy Dorcas Otieno, Dominik Dos-Reis, Ann Göbel, Gina Haller, Sandra Hüller, Stefan Hunstein, Bernd Rademacher, Mieko Suzuki, Ulvi Teke, Lukas Tobiassen, Jing Xiang und Mourade Zeguendi
Premiere war am 15. Juni 2019.
Weitere Termine: 19., 30.06 ./ 07., 13., 14.07.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhausbochum.de


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