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Premierenkritik

Wir

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die

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Wolken.Heim. von Elfriede Jelinek am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein

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Jetzt hat also auch das Stuttgarter Schauspiel sein Wolken.Heim., ergänzt um den nachgetragenen Epilog Und dann nach Hause. Wie kommt es, dass die Stücke von Elfriede Jelinek so häufig inszeniert werden, häufiger als die Stücke aller anderen zeitgenössischen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren? Könnte es daran liegen, dass sie den Regisseurinnen und Regisseuren von sich aus jene Freiheiten gewährt, die sie sich bei Tschechow und Strindberg, bei Hauptmann und Brecht erst nehmen müssen?

Elfriede Jelinek schreibt in dem mittlerweile mehr als dreißig Jahre alten „Monolog“ (!) nicht einmal vor, von wie vielen Darstellerinnen er gesprochen werden soll. Ihr Verlag bietet den Text mit dem Vermerk an: „Besetzung variabel min. 1D“. Weniger wäre in der Tat seltsam. In Stuttgart sind es vier Damen.

*

Zu Beginn steht eine von ihnen vor einer Spiegelwand, die das Publikum reflektiert: Es wird in das dominante „wir“ des Textes einbezogen. Dann verwandelt sich die Wand in drei Käfige, in denen die anderen drei Sprecherinnen, von der ersten wie Affen im Zoo beäugt, agieren. Die eine, mit Lockenwicklern in einer Wohnküche der fünfziger Jahre, die zweite mit den Attributen der siebziger Jahre und die dritte schließlich im Computerambiente. Die Regisseurin Friederike Heller hat sich entschlossen, die Schauspielerinnen mit Ausdruck sprechen zu lassen, als empfänden sie, was sie zu sagen haben. Sie wenden sich einander zu, sprechen in der wenig variierten Tonlage der Empörung oder des Dozierens. Die Alternative wäre eine mechanische Sprechweise, die den Text von den Sprecherinnen löst, aber die wird an Schauspielschulen nicht gelehrt. Sie wäre umso mehr gerechtfertigt, als das „wir“ in Jelineks Text nicht identisch ist mit dem Kollektiv der Sprecherinnen.

Wenn man sich jedoch auf Hellers Konzeption einlässt, muss man den Schauspielerinnen Christiane Roßbach, Therese Dörr, Josephine Köhler und Celina Rongen eine bravouröse Performance attestieren. Sie scheinen daran zu glauben, dass man sich diesen Text als psychologisch glaubwürdiges Individuum aneignen kann. Zwischendurch verfallen sie in eine Parallelchoreographie, die in der Figur des Hakenkreuzes endet wie einst Martin Wuttke als Arturo Ui.

Was man den Autoren nicht fiktionaler Texte zum Vorwurf macht – das ungenaue Zitat –, ist bei Elfriede Jelinek Methode. Diese Verfälschung von Zitaten aber erschwert die Entscheidung, ob sich der (satirische) Angriff gegen die Quellen der Zitate, gegen deren Benutzer wendet, oder ob sie nicht überhaupt nur Spielmaterial sind für einen Text ohne eindeutige Zielrichtung. Diese Mehrdeutigkeit ist die Ursache für die sich stapelnde Sekundärliteratur, die in der Regel mehr über die Interpreten, ihre Vorurteile und ihre Ideologie aussagt als über Jelineks Werk. Und weil sich dieses Werk eben wegen seiner Ambiguität für ganz verschiedene Standpunkte funktionalisieren lässt, gibt es davon, jenseits gehässiger, politisch motivierter journalistischer Polemiken, vorwiegend apologetische und kaum kritische Analysen und Interpretationen.

Schon das „wir“ ist ja ambivalent. Grammatisch lässt es sich vom „wir“ etwa im Solidaritätslied„Wollen wir es schnell erreichen,/ brauchen wir noch dich und dich“ – nicht unterscheiden. Vereinfacht gesprochen begegnet Jelinek dem gleichen Dilemma wie Brecht bei seinem Mann ist Mann: dass man die Frage des Widerspruchs von Individualismus und Kollektiv nicht ohne Berücksichtigung der jeweiligen historischen Situation beantworten kann. Und woher nimmt man eigentlich das Vertrauen auf das Einverständnis bei der Ablehnung fremdenfeindlicher Sätz? Gehen AfD-Wähler nicht ins Theater? Wird es sie überzeugen, wenn die erste Darstellerin hochschwanger eine Zeitschrift lesend und Kaffee trinkend neben einer Zimmerpflanze sitzt, ehe sie deutsche Muttererde gebiert?




Wolken.Heim. von Elfriede Jelinek am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein

Thomas Rothschild – 25. Mai 2019
ID 11433
WOLKEN.HEIM. (Kammertheater, 24.05.2019)
unter Verwendung des Epilogs Und dann nach Hause

Inszenierung: Friederike Heller
Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt
Sound Design und Musik: Peter Thiessen
Licht: Stefan Schmidt
Dramaturgie: Sina Katharina Flubacher
Mit: Christiane Roßbach, Therese Dörr, Josephine Köhler und Celina Rongen
Uraufführung Wolken.Heim. am Schauspiel Bonn: 21. September 1988
Premiere am Schauspiel Stuttgart: 24. Mai 2019
Weitere Termine: 03.-05., 07.06. / 17., 18.07.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de


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