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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Nichts in

die Wiege

gelegt



(C) Esra Rotthoff

Bewertung:    



„Lasst auch diesen Kelch an mir vorüberziehen.“ Zur Elite ist sie nicht geboren, das ahnt die Ich-Erzählerin in Streulicht früh. Wenn der Lehrer Herr Kaiser großspurig behauptet, er würde die Elite von morgen ausbilden, rätselt sie noch über dieses Wort, „Elite“. Das unsichere, sensible und schüchterne Kind lernt von seiner türkischstämmigen Mutter und seinem deutschen Vater, möglichst unscheinbar im Hintergrund zu bleiben. Im Schulunterricht schweigt es peinlich berührt, wenn die Lehrer es drannehmen. Das Kind aus der Arbeiterschicht mit den problematischen Eltern schließt dann sogar die Augen. In der Grundschule und später auf dem Gymnasium lernt die Heranwachsende zaghaft, dass sie auch selbst Einfluss auf ihre Zukunft nehmen kann.

Deniz Ohde erzählt in Streulicht von alltäglichen Herausforderungen eines Kindes mit Migrationshintergrund, das aus prekären Verhältnissen kommt. Mit ihrer einfühlsamen und dichten Sprache und genauen Beobachtungen beschreibt die Frankfurter Germanistin ein familiäres Chaos zuhause. Ihre namenlos bleibende Protagonistin hat unglückliche, eben nicht liebevoll-zugewandte Eltern. Die heute 33jährige Schriftstellerin thematisiert auch ungleiche Chancen, Benachteiligungen und starre Hürden des Bildungssystems. Mit ihrem Debütroman schaffte es die Autorin überraschend 2020 auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ausgezeichnet wurde sie für Streulicht mit anderen Buchpreisen, wie dem aspekte-Literaturpreis, dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem Bloggerpreis für das beste Debüt 2020.

*

Am Berliner Maxim Gorki Theater verlässt sich der türkische Regisseur Nurkan Erpulat in seiner Bühnenfassung weitestgehend auf die atmosphärische Sprachkraft der Romanvorlage. In der vorsichtig tastenden Inszenierung sprechen drei Darsteller im gleichen, violett-grauem Jogging-Dress kondensierte Textabschnitte aus der Ich-Perspektive zum Publikum hin. Bereits zu Anfang geht es um empfindsame Wortspielereien. Das Adjektiv „aus-schlag-gebend“ wird in seine Bestandteile zerpflückt. Çiğdem Teke formt bei der der Silbe „-schlag“ ihre Hand wie eine Ringkämpferin zur Faust. Später wird das Identitätsthema mehr fokussiert, wenn es heißt, die Ich-Erzählerin sei „nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren“.

Die Bühnen- und Kostümbildnerin Magda Willi postiert eine helle, verschieb- und formbare Wandzeile im Bühnenhintergrund. Diese fungiert mal als Innenraum einer Wohnung und mal als Häuserreihe-Element einer grau-sterilen Reihenhaussiedlung. An diese Wand werden phasenweise eingespielte Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Büke Schwarz geworfen. Sie verdeutlichen den Ort des Geschehens. Später nehmen die Projektionen an Fahrt auf und mutieren zu Videosequenzen, wenn sich die Protagonistin ihrer selbst mehr bewusst wird und weniger teilnahmslos agiert. Andere Requisiten schaffen neue Bezugsräume. So ziehen die drei Ich-Darsteller bald aus ihren Schultüten großformatige Fotos, die unter anderem auf rechtsterroristische Anschläge gegen türkische Geschäfte in Köln-Mülheim anspielen. Die Darsteller befestigen einzelne Fotos an der Bühnenwand. Es klingt so an, dass gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit die finstere familiäre Grundstimmung beeinflusst.

Während Çiğdem Teke und Wojo van Brouwer auch des Öfteren die Eltern oder die besten Freunde der Ich-Erzählerin verkörpern, mimt Aysima Ergün durchgehend die Ich-Erzählerin. Einmal setzt sie sich direkt vor die Bühnenwand, und die Silhouette des väterlichen Schattens liegt machtvoll über ihr. Unheilvolle Ahnung einer bereits vorhersehbaren Opferrolle? Bewusst werden eine schlechte Behandlung und Gewalt- und Missbrauchserfahrungen der Hauptfigur angedeutet, wenn es um Scherben oder verschlossene Türen geht. Es wird beim Publikum Neugier geschürt, das Erkenntnisinteresse verlagert sich alsbald auf andere Ebenen.

Nurkan Erpulats einfallsreiche und liebevoll auch durch Gesangseinlagen bereicherte Inszenierung beeindruckt insbesondere choreographisch. Modjgan Hashemian hat dem Darstellertrio für die Szenen im Schulunterricht oder daheim eine ganze Reihe an zweckfreien tänzerischen Bewegungsabläufen auf den Leib geschrieben. Es werden in endlosen, teils synchronen Wiederholungen Köpfe aufgestützt, das Schulheft bemalt oder Arme zum Aufzeigen in die Luft geworfen. Die Figuren erscheinen so eindrücklich wie hospitalisiert. Andere Gags muten hingegen eher flach an, wenn etwa die Schultüte auf der Abendschule als erweiterter Joint herhalten muss oder sich die Hauptfigur durch ein Ganzkörperhasenkostüm ein dickeres Fell zulegt. Leider überlagern die szenischen Effekte auch insbesondere zum Ende hin etwas den komplexen Erzählfluss, so dass einige erzählerische Ideen regelrecht in der Bilderflut unterzugehen drohen.



Aysima Ergün, Deniz Ohde und Nurkan Erpulat (v.l.n.r.) beim Premierenapplaus zu Streulicht im Container des Maxim Gorki Theaters Berlin | Foto: Ansgar Skoda

Ansgar Skoda - 21. August 2021
ID 13089
STREULICHT (Container, 20.08.2021)
Regie: Nurkan Erpulat
Bühne + Kostüme: Magda Willi
Zeichnungen: Büke Schwarz
Musik: Michael Haves
Choreografie: Modjgan Hashemian
Dramaturgie: Johannes Kirsten und Yunus Ersoy
Mit: Aysima Ergün, Çiğdem Teke und Wojo van Brouwer
Premiere am Maxim Gorki Theater: 20. August 2021
Weitere Termine: 21., 22., 30., 31.08./ 1., 25.09.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de/de/streulicht


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