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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Verzweiflung

unter

Wattewölkchen



Hedda Gabler am Münchner Volkstheater | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Es gibt Stücke auf Spielplänen, etwa Ibsens Hedda Gabler, da denkt man sich: muss das sein? Was hat das mit uns noch zu tun? Und dann geht man hin und ist gefesselt vom ersten bis zum letzten Moment!

Das Anfangsbild. Zwei junge Frauen, Heddas Bedienstete (Jorid Lukaczik und Nathalie Schörken), treten an die Bühnenrampe und setzen einen Plattenspieler in Gang: leise Musik. Dann öffnen sie den Gazevorhang vor der Bühne (von Jana Wassong) und geben den Blick frei – auf eine kreisrunde Drehscheibe, darüber einen Wattehimmel und darauf eine Recamière nebst Teewagen. Alles ist in Pastelltöne getaucht. In der Mitte die Titelheldin (Anne Stein) im Plastik-Rokokokostüm. Sie raucht schweigend unter ihrer Kringellockenturmfrisur. Tiefe, gelangweilte Züge. Das sieht man nicht nur, das hört man – wie das künstliche verstärkte Geräusch ihrer Trippelschritte. Jacques Tatis moderne Zeiten lassen grüßen. Der Gatte am Rande tippt outriert in sein Notebook, produziert aber vor allem Geräusche einer alten Schreibmaschine: pling macht sie beim Zeilenwechsel. Der bürgerliche Salon – ein künstliches Wolkenkuckucksheim, reduziert auf die Plattform einer Spieluhr. Die Inszenierung braucht sie nur noch aufzuziehen. Und das wird sie tun, bravourös und rasant: mit viel Tempo, spannungsgeladen, grotesk, lächerlich, tragikomisch, durchchoreographiert wie ein Ballett oder eine Händel-Oper. Jörg Golasch (Musik) hat wundervolle Töne gefunden und eigens für die Inszenierung komponiert.



Der Inhalt: Heddas Gatte Jörgen (Jakob Immervoll) hofft sein Buch fertigstellen zu können und sich damit eine Professur zu sichern. Dann könnte er auch die Schulden für das feudale Haus bezahlen, das er für seine anspruchsvolle Frau gekauft hat. Die Generalstochter hat ihn nicht aus Liebe geheiratet, sondern wegen seiner beruflichen Aussichten. Zuvor hatte sie ihren früheren Geliebten Eilat (Jakob Geßner) sausen lassen, weil er eben keine Karriere zu machen schien. Aber Hedda hat aufs falsche Pferd gesetzt. Unter dem Einfluss ihrer Schulkameradin Thea (Pauline Alpen), die wie Hedda selbst wenig glücklich verheiratet ist, kommt Eilat vom Alkohol los und schreibt ein Buch. Wider Erwarten ein großer Erfolg. Damit gefährdet er die Aussichten Jörgens auf eine Professur und Heddas Lebensplan.

Hedda rächt sich. Sie hintergeht Jörgen, drängt sich in die Beziehung von Thea und Eilat, verführt diesen absichtlich wieder zum Alkohol. Schließlich nimmt sie sogar sein noch nicht veröffentlichtes neues Manuskript an sich, vernichtet es und zwingt Eilat, der sich gesellschaftlich einmal mehr unmöglich gemacht hat, zum Selbstmord. Mit ihrem väterlichen Erbe, einer Pistole, erschießt sie sich am Ende selbst. Eilats Werk aber werden Jörgen und Thea rekonstruieren und damit ihrem Leben einen Sinn geben.

Was treibt Hedda an? „Einmal in meinem Leben will ich Macht besitzen über das Schicksal eines anderen Menschen.“ Warum vernichtet sie Eilat und sich selbst? „Er hat die Kraft gehabt, nach seinen eigenen Regeln zu leben.“ Selbstbestimmtes Leben, Sinn und Erfüllung durch Tätigkeit statt Orientierung an äußerlichen Werten wie Besitz und gesellschaftlichem Status, das wär‘s.


Hedda Gablers Neunzehntes-Jahrhundert-Schicksal will die 31jährige Berliner Regisseurin Lucia Bihler (in München bekannt geworden durch ihre Inszenierungen für „Radikal jung“, seit 2019 Hausregisseurin an der Volksbühne Berlin) zeitlos verstanden wissen. Eilats Manuskript ist in einem Stick gespeichert, die Posen gehen online, die Wattewölkchen aber müssen abgestaubt werden.

Parallelen zur Gegenwart liegen auf der Hand: Gerade Frauen inszenieren sich in den sozialen Medien heute wieder als „Puppen“, Geld und Erfolg sind sexy wie eh und je – gerade hier in München.

Ein fulminanter Saisonauftakt, auch dank der großartigen Leistung des Schauspielerensembles, das sicher ins Schwitzen geraten ist, eingezwängt in so viel Plastik. Begeisterter Beifall!




Hedda Gabler am Münchner Volkstheater | Foto (C) Arno Declair

Petra Herrmann - 28. September 2019
ID 11704
HEDDA GABLER (Münchner Volkstheater, 27.09.2019)
Regie: Lucia Bihler
Bühne: Jana Wassong
Kostüme: Laura Kirst
Musik: Jörg Gollasch
Dramaturgie: Mats Süthoff
Besetzung:
Hedda Gabler ... Anne Stein
Jörgen Tesman ... Jakob Immervoll
Eilat Lövborg ... Jakob Geßner
Thea Elvstedt ... Paulina Alpen
Amtsgerichtsrat Brack ... Timocin Ziegler
Berte (Doppelbesetzung) ... Jorid Lukaczik / Nathalie Schörken
Premiere war am 27. September 2019.
Weitere Termine: 28.09. / 03., 10.10. / 06.11.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.muenchner-volkstheater.de


Post an Petra Herrmann

petra-herrmann-kunst.de

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