Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Premierenkritik

Schiffsflüchtlingen

die Einreise

verweigert



Nikolaus Benda als jüdischer Arzt in Die Reise der Verlorenen am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer

Bewertung:    



Viele Geflüchtete kämpfen heute auf Schiffen um das Überleben. Sie irren über den Ozean. 2019 erhielten die Seenotrettungskapitäninnen Carola Rackete und Pia Klemp in Paris die Verdienstmedaille der Stadt. Geehrt wurden sie für ihre Solidarität und ihr Engagement für die Achtung der Menschenrechte. Trotzdem diskutiert man nach wie vor vielfach darüber, ob die Rettung von Menschenleben tatsächlich über dem Einreise-Kontrollrecht der Staaten stehe.

Die deutsche Erstaufführung von Die Reise der Verlorenen am Schauspiel Köln handelt von jüdischen deutschen Flüchtlingen und ihrem Schicksal auf hoher See. Es ist ein aktuelles Thema, obwohl Regisseur Rafael Sanchez keine eindeutigen Bezüge zur Gegenwart in das Stück einbettet.

Bestseller-Autor Daniel Kehlmann verarbeitet in seinem Stück historische Fakten, entlehnt aus dem Buch Voyage of the damned (1974). Der Tatsachenbericht der amerikanischen Journalisten Gordon Thomas und Max Morgan-Witts beruht auf dokumentarischem Material. Die literarische Vorlage, die Kehlmann diente, wurde übrigens 1976 starbesetzt und von Stuart Rosenberg als Hollywood-Blockbuster [Reise der Verdammten] verfilmt.

*

937 mittellose jüdische Bürger gehen 1939 in Hamburg an Bord der St. Louis mit Landegenehmigungen für Kuba. Viele wollen von Kuba aus in die USA einreisen. Der kubanische Präsident verweigert jedoch die Einreise. Das Schiff muss zurück nach Hamburg fahren. Hier droht für die Passagiere erneut die sichere Deportation.

Thomas Dreißigackers Bühnenbild ist minimalistisch und schlicht. Sechs Stühle stehen in einer Reihe, ein Klavier ist links von der Bühne platziert. Eine dreieckige Erhöhung deutet einen Schiffsbug an. Ein bühnenbreites Bild zeigt das Meer und einen sich nicht nähernden, ewigen Horizont. Bewegung und Waber-Effekte fließen in der Videoprojektion mit ein. Mäntel und Hüte hängen an Kleiderhaken zu beiden Seiten der Bühne. Mit ihrer Hilfe verwandeln sich die Darsteller vor den Augen der Zuschauer stets in neue Figuren. Die schiefe Ebene und Bugspitze wird später eine Insel darstellen, auf der eine jüdische Unterhändlerin mit einem kubanischen General verhandelt.

Mit Hilfe wechselnder Accessoires schlüpfen die sechs Hauptdarsteller in wechselnde Rollen. Einzelschicksale werden als biographische Anrisse frontal zum Publikum hin skizziert. Die Spielszenen sind kurz. Es fließen in die Inszenierung Live-Klavierspiel eines Pianisten, Gesang und Sketche ein, die das Bühnengeschehen dramaturgisch auflockern. So entgeht die Inszenierung dem Manko, zu moralisch zu erscheinen. „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ erklingt es einstimmig im Chor.

Die Passagiere singen, sprechen miteinander, tanzen, schreien und planen ihre unsichere Zukunft. Peter Lohmeyer spielt den Kapitän des Schiffes als anständigen Menschen, der im Widerstreit zwischen seiner Verantwortung und den politischen Bedingungen steht.

Stefko Hanushevsky mimt seinen Widersacher. Er spricht als bekennender NSDAP-Ortsgruppenleiter das Publikum direkt an und behauptet, wir könnten von heute aus nicht beurteilen, wie wir in der NS-Zeit gehandelt hätten. Er markiert bissig zugleich den Täter aber auch den Stewart auf dem Schiff.

Drei Kinder toben über die Bühne und sorgen für emotionale Momente. Die elfjährigen, unschuldig lachenden Mädchen haben keine Ahnung, was sie erwartet. Zwei von ihnen markieren später auch Politiker. Ida Marie Fayl stellt Joseph Kennedy dar, der sich als Botschafter in London dafür aussprach, die Geflüchteten in den USA aufzunehmen. Ruth Grubenbrecher weist als britischer Staatssekretär Kennedy in seine Schranken.

Es wird eine weltpolitische Verhandlung nachgestellt. In einer eilig einberufenen Konferenz schachern Regierungsverantwortliche auf unwürdige Weise um Menschenleben. Es herrschen Geldgier und internationale Kaltherzigkeit, wenn Binsenweisheiten bemüht werden, um zu erklären, warum keine Flüchtlinge gerettet werden können. Die Entscheidungsgewalt liegt bei den Regierungsverantwortlichen. Diese betrachten die Flüchtlinge aus einer nationalistisch-egoistischen Perspektive als Belastung. Zynisch trumpfen mehrere Staaten damit auf, dass sie ihren Steuerzahlern nicht noch mehr Einwanderer aufbürden könnten, auch angesichts der Weltwirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit.

Die jüdischen Flüchtlinge liegen vor dem Hafen von Havanna. Der Horizont schwankt, wenn der Präsident verkündet, dass das Schiff in Kuba nicht vor Anker gehen darf. Als die St. Louis wieder gen Hamburg ablegt, kommt dies einem Todesurteil für die Passagiere gleich. Hier gilt die Tragik einer überholenden Kausalität, da die Passagiere zwar vor den deutschen Nationalsozialisten fliehen konnten, um dann doch wieder in deren Hände zu geraten. Alle Hoffnungen scheinen so vergebens und die Reise eine in das Verderben. Unter den Schiffsinsassen gibt es Verzweifelte, Zaudernde und Rebellen. Leider werden die Enttäuschung und das Entsetzen von den Darstellern nur angedeutet. Am Ende herrscht vor allem Apathie.

Der Kapitän entwirft und verwirft waghalsige Rettungspläne für die Geflüchteten. Würde er sich als Helfer gegen die Regierung als Entscheidungsgewalt und ausführendem Organ auflehnen? Kann er sich auf das Seerecht und dem Recht auf Hilfeleistung auf See berufen? Es ist von bitterer Ironie, dass hier Rechtspflichten und moralische Pflichten miteinander in einen Konflikt geraten.

Die Fluchtgeschichte in das Verderben ist packend und eindringlich inszeniert. Die mit wenig Mitteln gespielte Geschichte überlässt es dem Zuschauer, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.



Die Reise der Verlorenen am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer

Ansgar Skoda - 10. November 2019
ID 11806
DIE REISE DER VERLORENEN (Depot 2, 07.11.2019)
Regie: Rafael Sanchez
Bühne: Thomas Dreißigacker
Kostüme: Maria Roers
Musik: Cornelius Borgolte
Licht: Jürgen Kapitein
Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki
Mit: Nikolaus Benda, Stefko Hanushevsky, Peter Lohmeyer, Justus Maier, Kristin Steffen, Birgit Walter, Cornelius Borgolte, Ida Marie Fayl, Ruth Grubenbecher und Fritza Zöllich
DEA am Schauspiel Köln: 7. November 2019
Weitere Termine: 10., 13., 14., 19., 29.11./ 06., 14., 18.12.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln/


Post an Ansgar Skoda

skoda-webservice.de

Neue Stücke

Premierenkritiken



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:



THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

THEATERTREFFEN

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)