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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Das Rätsel

Mensch



Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino am Münchner Volkstheater | Foto (C) Gabriela Neeb

Bewertung:    



Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino.

Möglicherweise.

Denn der Titel des Stückes nimmt Bezug auf Pier Paolo Pasolinis Ödipus-Film. Erzählt wird jedenfalls die (Schauer-)Geschichte der Phönizierinnen, einem Drama des Euripides. Und zwar von einem Mädchenchor, der die Rolle eines Reiseführers durch die Zeiten spielt und so den komplexen Sagenkreis um die Stadt Theben in die Gegenwart holt. In einer Sprache, die alles Mögliche drauf hat und unvermittelt anschlägt: den antiken Tragödienton, Slang und aktuelles Militär-, Politik- und Wirtschaftsvokabular.

Die Figuren handeln, aber sie erinnern sich auch, während sie handeln, sind quasi Wiedergänger ihrer selbst. Dabei ist Iocaste, die Frau und Mutter des Ödipus, die zentrale Figur (souverän verstört: Mara Widmann). Ihre Söhne Eteokles und Polyneikes haben den erblindeten Vater entthront und verabredet sich jährlich die Herrschaft in Theben zu teilen. Eteokles (clownesk: Nikolaus Streit) aber fühlt sich allzu wohl im silbernen Königs-Mantel mit der schwarzen Krone über der Napoleonlocke – und will die Macht nicht teilen. „Was ist falsch an absoluter Macht? Macht ist Kontrolle. Und Kontrolle ist Sicherheit.“

Als Polyneikes (vergeblich um Anerkennung bettelnd: Timocin Ziegler) mit einem Heer vor Theben erscheint, versucht Iocaste zu vermitteln. Doch die Macht, so Eteokles, ist „nicht verhandelbar“. Es kommt zum Krieg. Das Massaker endet erst, als die Brüder sich im Zweikampf gegenseitig erschlagen. Iokaste tötet sich daraufhin selbst. Doch das Drama ist damit noch lange nicht zu Ende. Iokastes Bruder Kreon (von der Situation verführt: Jonathan Müller) kommt an die Macht und verbietet die Bestattung des Polyneikes. Doch Antigone, dessen Schwester (eindringlich: Pola Jane O´Mara), wird nicht gehorchen. Alles weitere… kennen Sie aus anderen klassischen Dramen.

Ein kompliziertes Setting, das sich auf einer Art Probebühne (Bühne: Matthias Nebel) abspielt, die verschiedene Zeitebenen verbindet und Platz schafft für Videoprojektionen von riesigen Augen, die offenbar doch nichts sehen können. Schwärze, wenig Mobiliar, ein paar Pappsteine - Wurfgeschosse der Belagerer -, schwarze Vögel, die vom Himmel fallen. Einen davon nimmt das kleinste Mädchen des Chores auf den Arm: sie streichelt das tote Tier, die einzig „menschliche“ Geste des Abends. Ausgerechnet dieses Kind wird später Kreons Sohn das Messer überreichen, mit dem er sich zum Wohle der Stadt opfert, weil er „ein Mann“ und kein Feigling sein will (sensibel: Jonathan Hutter).

Denn der ach so weibliche, jugendliche, ja kindliche Chor (Nina Steils, Ines Hollinger, Anna Roth) lässt sich zunehmend in den Strudel von Gewalt und Grausamkeit hineinziehen. Wollten die Mädchen nicht eigentlich verstehen? Die Rätsel um Äpfel, Orangen und Helden lösen? Aber wie könnten, wie sollten sie, wenn sogar Iocaste am Ende nur ratlos fragt: „Und wie gehts jetzt weiter?“

Dreh- und Angelpunkt des Stücks ist das Rätsel der Sphinx. Auch sie belagerte einst der Sage nach Theben und fraß jeden, der es nicht lösen konnte. Gewachsen war ihr nur Ödipus, der damals sich und Theben retten konnte. Doch Ödipus ist längst blind und entmachtet. Er hat ein Machtvakuum hinterlassen, ein familiäres Trauma und viele ungelöste Fragen wie: Gibt es den gerechten Krieg? Nein, aber er ist besser als Sex, befindet der Chor schließlich im Blutrausch und will eigentlich gar nicht mehr wissen: „Wenn die Antwort auf das Rätsel 'der Mensch' ist, was ist dann die Frage?“ Da schweigt auch Teiresias, der blinde Seher.

Dieser Teiresias (Silas Breiding) wird als Transgender vorgeführt (in der Tat war Teiresias der antiken Legende nach sowohl Mann als auch Frau) und zeigt bravourös ein paar schöne Soli, wie auch alle anderen Mitglieder des Ensembles ihr Bestes geben. Dennoch berührt die Inszenierung von Mirja Biel kaum. Eine Abfolge von Greueln und Teichoskopien ohne spürbaren Rhythmus oder Höhe-bzw. Tiefpunkte. Weder entschlossen grotesker Slapstick, noch echte Tragödie.

*

Dabei zeigt der Autor Martin Crimp, wie die Lösung eines Rätsels nur weitere Rätsel produziert und eine Spirale der Gewalt in Gang setzt, deren Wucht bis heute wirkt.



Jonathan Hutter und Jonathan Müller in Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino am Münchner Volkstheater | Foto (C) Gabriela Neeb

Petra Herrmann - 2. Juli 2019
ID 11541
ALLES WEITERE KENNEN SIE AUS DEM KINO (Münchner Volkstheater, 30.06.2019)
nach Euripides' DIE PHÖNIZIERINNEN

Regie: Mirja Biel
Bühne: Matthias Nebel
Kostüme : Katrin Wolfermann
Musik: Fee Kürten
Video: Rosanna Graf
Dramaturgie: Rose Reiter
Besetzung:
Iokaste ... Mara Widmann
Antigone ... Pola Jane O´Mara
Menoikeus ... Jonathan Hutter
Polyneikes ... Timocin Ziegler
Eteokles ... Nicolas Streit
Kreon ... Jonathan Müller
Teiresias ... Silas Breiding
Mädchen: Nina Steils, Ines Hollinger und Anna Roth
Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: 24. November 2013
Premiere am Münchner Volkstheater: 30. Juni 2019
Weitere Termine: 05., 18.07.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.muenchner-volkstheater.de


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