Oper Hannover, Oktober 2007
Luigi Dallapiccola: Il prigioniero / Maurice Ravel: L’enfant et les sortilèges
Operndoppelabend
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Lauri Vasar, Robert Künzli. Foto u. Copyright: Thomas M. Jauk - Stargarder Str. 10 - 10437 Berlin
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Ein Mann hockt in einer Zelle, in sich zusammengekauert. Er könnte fliehen, versucht es auch, kommt aber nicht weit. Das Ende des Weges ist nicht abzusehen und die Kraft reicht nicht aus. Er kann sich nicht mehr aufrichten, nur noch kriechen, die Füße hält er, als wären sie verkrüppelt. Wie ein Blinder reagiert er auf die Geräusche um sich herum.
Luigi Dallapiccolas Oper „Il prigioniero“ („Der Gefangene“) aus dem Jahr 1949 ist nicht unbedingt häufig auf den Spielplänen deutscher Opernhäuser anzutreffen. Umso höher ist der Staatsoper Hannover anzurechnen, dass sie dieses Werk als letzte Premiere der Spielzeit 2006/2007 in einem Doppelabend mit Ravels „L’enfant et les sortilèges“ („Das Kind und die Zauberdinge“) auf die Bühne gebracht hat.
Andrea Schwalbachs Inszenierung von „Il prigioniero“ stellt nichts groß aus, ist aber dennoch deutlich und eindringlich. Die Mutter des Gefangenen, die in der ersten Szene ihrer Angst um ihren Sohn Ausdruck verleiht, verlässt die Szenerie nicht komplett, ist immer mal wieder anwesend und lässt sich von den Schergen hinter die Bühne führen. Was mit ihr geschieht, lässt sich nur erahnen, aber offensichtlich ist sie bereit, alles für ihren Sohn zu tun. Selbst dem Kerkermeister hilft sie in den Mantel und somit bei seiner Verwandlung zum Großinquisitor, der ihrem Sohn auf brutale Art das Leben nimmt. Dessen Anrede für den Gefangenen – „fratello“ („Bruder“) – ist trügerisch, aber der Gefangene hat das Sensorium für solche Feinheiten unter der Folter längst verloren. In einem kurzen wachen Moment erkennt er, dass die Hoffnung, die ihm der Kerkermeister gemacht hat, nur ein weiteres Mittel war, ihn zu quälen.
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Khatuna Mikaberidze, Lauri Vasar. Foto u. Copyright: Thomas M. Jauk - Stargarder Str. 10 - 10437 Berlin
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Lauri Vasar gibt diesen Gefangenen mit einer Eindringlichkeit in Gesang und Körpersprache, die absolut bestechend ist. Er trägt den Abend und beeindruckt als Sängerdarsteller, wie man es selten gesehen hat. Seine Darstellung des Gefangenen ist – das darf man ruhig so sagen – ein Ereignis. Aber auch die anderen Darsteller, wie klein ihre Rolle auch sein mag, stehen ihm nicht nach. Alles in allem ein sehr einfach gehaltener, aber sehr dichter erster Teil.
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Jörn Eichler, Julia Grinjuk, Okka von der Damerau. Foto u. Copyright: Thomas M. Jauk - Stargarder Str. 10 - 10437 Berlin
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Nach der Pause geht es weiter mit Ravels „L’enfant et les sortilèges“. Einerseits ganz anders, andererseits auch nicht. Die Bühne ist dieselbe, nur gibt es jetzt mehr Requisiten: einen Tisch, ein Sofa, Klappen an allen Ecken und Enden, aus denen Menschen hervorspringen oder herausschauen. Alles ist verspielter, die nüchterne Atmosphäre in Grau aus dem ersten Teil weicht einer freundlicheren Beleuchtung. Ravels Oper handelt von einem Kind, das beschließt, von nun an böse zu sein. Und mit diesem Entschluss scheinen die Gegenstände im Kinderzimmer zum Leben erweckt zu werden: In rascher Folge turnen beispielsweise eine chinesische Tasse, eine Standuhr, eine Teekanne und Tiere um das Kind herum. Schwalbach beweist in ihrer Inszenierung Einfallsreichtum: Grün gekleidete Herren erscheinen im Takt aus Klappen im Boden und verschwinden wieder, Seifenblasen steigen auf, der Lehnstuhl ist eine alte Oma, die auf einem Sofa sitzt und strickt, das Feuer eine mondäne Dame mit feuerrotem Turban. Dennoch entfaltet sich hier keine Kinderwunderwelt, sondern alles bleibt merkwürdig kalt und leer. Das liegt auch daran, dass die zum Leben erweckten Einrichtungsgegenstände das Kind piesacken, sich dafür rächen, wie mit ihnen umgegangen wurde.
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Das Kind hat keinen Gefährten, keine Bezugsperson. In seiner Einsamkeit ist es dem Gefangenen aus „Il prigioniero“ vergleichbar. Und im jeweils gezeigten Umgang mit dem, was einen Menschen ausmacht, mit seiner Seele, sind beide Stück hochaktuell. Dort der Gefangene, der Opfer eines totalitären Staates ist und der perfide gefoltert wird, indem ihm Hoffnung gemacht wird, hier das Kind, das ein Opfer von Vernachlässigung ist und dessen letztes Wort „Mama“ ist.
Am Mittwoch, dem 31.10. ist der äußerst gelungene und anregende Doppelabend zum letzten Mal zu sehen sein. Der Weg nach Hannover lohnt sich.
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Julia Grinjuk. Foto u. Copyright: Thomas M. Jauk - Stargarder Str. 10 - 10437 Berlin
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Il prigioniero
Luigi Dallapiccola
Un prologo e un atto (1949)
Libretto vom Komponisten nach der Erzählung „La Torture par l’espérance“ von Auguste Villiers de l’Isle-Adam und dem Roman „La Légende d’Ulenspiegel“ von Charles De Coster
In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
L’enfant et les sortilèges
Maurice Ravel
Fantaisie lyrique en deux parties (1925)
Libretto von Colette
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung: Lutz de Veer
Inszenierung: Andrea Schwalbach
Bühne: Anne Neuser
Kostüme: Stephan von Wedel
Chor: Dan Ratiu
Dramaturgie: Dorothea Hartmann
Il Prigioniero
Die Mutter: Khatuna Mikaberidze
Der Gefangene: Lauri Vasar
Der Kerkermeister /Der Großinquisitor: Robert Künzli
1. Priester: Roland Wagenführer
2. Priester: Tobias Schabel
L’enfant et les sortilèges
Das Kind: Julia Grinjuk
Die Mutter/Die Libelle / Ein Hirte: Gertraud Wagner
Der Lehnsessel/Die Prinzessin: Alla Kravchuk
Die chinesische Tasse/Das Eichhörnchen/Die Katze: Barbara Senator
Das Feuer/Die Nachtigall: Karen Frankenstein
Die Fledermaus/Die Eule/Eine Hirtin: Carmen Fuggiss
Ein Armsessel/Ein Baum: Young Myoung Kwon
Die Standuhr/Der Kater: Jin-Ho Yoo
Die Wedgwood-Teekanne/Der kleine Alte/Der Frosch: Jörn Eichler
Premiere am 24. Mai 2007, Wiederaufnahme am 28.09.2007, weiterer Termin am 31.10.2007
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Karoline Bendig - red. / 30. Oktober 2007 ID 00000003501
Weitere Infos siehe auch: http://www.hannover.de/staatsoperhannover/spielplaene/stueckuebersicht/Il_prigioniero_L_Enfant_et_les_sortileges/index.html
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