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Gastspiel

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Mit Orwells 1984 gastierte das Düsseldorfer Schauspielhaus im DT Berlin
Bewertung:    



Algorithmen bestimmen das Glück; Kontrolle und Konformität den Lebensrhythmus. Im Klassiker 1984 von George Orwell gibt es ein technisches Programm oder System, dem alle Bürger Folge zu leisten haben. Im fiktiven totalitären Staat Ozeanien herrscht kompromisslos die totale Überwachung. Künstliche Intelligenz ist der Natur und den Menschen übergeordnet und optimiert gnadenlos die Zukunft.

Regisseur Armin Petras glaubt, dass in Zeiten von Big Data und digitalen Medien die düsteren Zukunftsvisionen in Orwells 1949 - also 35 Jahre vor dem Jahr 1984 - erschienen Dystopie heute - 35 Jahre nach 1984 - bereits Wirklichkeit geworden sind. Seine aufwendige Bearbeitung des berühmten Romans für das Theater – eine Koproduktion des Düsseldorfer Schauspielhauses mit dem Schauspiel Stuttgart – wurde jetzt am Deutschen Theater in Berlin gezeigt.

*

Olaf Altmanns Bühnenbild beherrschen dunkle, zylinderförmige Drehwände, die sich öffnen und schließen, hoch und herunterfahren lassen. Mal verschwinden die Figuren darunter. Mal treten sie dahinter hervor. Sie ordnen sich scheinbar stets einer Mensch-Maschine-Verbindung unter, die von den Bewegungen der unterschiedlich großen Wände ausgeht.

Der alles dominierende große Bruder, der die Bürger überwacht und beherrscht, ist mit dem Schauspieler und Musiker Christian Friedel recht präsent besetzt. Friedel verkörpert ihn nicht als Schreckensmann und Diktator, sondern als allgegenwärtigen, verführerischen und stimmgewaltigen Entertainer, Influencer und Popstar. Er darf gesanglich durchaus ausdrucksstark mit avantgardistischem Dark Wave aufwarten. Die gesamte Inszenierung wird durch eine atmosphärische, recht poppige Orchestrierung der Dresdner Live-Band Woods of Birnam, deren Frontmann Friedel ist, bereichert. Auch Rahel Ohm und Cathleen Baumann steuern in den Rollen von Nebenfiguren nuancierte Gesangsparts bei.

Den Gegenspieler des Bruders mimt der recht prominente Schauspieler Robert Kuchenbuch. Als Winston Smith, ein Parteimitglied im Ministerium für Wahrheit, schreibt er ein Buch - ein Aufruf zum Widerstand und letztes Lebenszeichen eines Todgeweihten. Gemeinsam mit seiner Mitstreiterin Julia (Lea Ruckpaul) bildet Winston alsbald die Keimzelle einer Untergrundbewegung. In der Vorführung kreisen die beiden Figuren beim Kennenlernen wiederholt umeinander, wie in einer körperbetonten Kontaktimprovisation. So trägt mal Winston Julia auf seinem Rücken und dann wieder umgekehrt. Diese betont fremdartig anmutenden Liebesannäherungen, in denen die Körper aneinander entlang streichen, haben deutliche Längen.

Auf dem Gefühls-Barometer der Figuren sinkt stets ihr Gefühl für Freiheit. Politische Gegner des großen Bruders werden vaporisiert, was so viel bedeutet, wie vernichtet. Die Gedanken sind nicht mehr frei, denn sogar schon sogenannte Gedankenverbrecher werden ausgelöscht. Da kennen die Machthabenden keine halben Sachen, wie später auch die eher komisch angelegte Figur des O’Brien (Wolfgang Michalek) erklärt. O’Brien versucht in den Köpfen Winstons und Julias eine neue Sprache durch Wiederholung zu verankern.

Orwell selbst schrieb 1984 im letzten Stadium einer Tuberkuloseerkrankung sozusagen als letztes Lebenszeichen. Der Titel dieses Werkes scheint beliebig; er arbeitet mit einem simplen Zahlendreher des Entstehungsdatums 1948. Auch Orwells Protagonist Winston schreibt im Stückverlauf wie ein Getriebener gegen den nahenden Tod an. Die Figuren haben während ihrer Revolte im Privaten kein klar fokussiertes Ziel und keine Rest-Hoffnung. George Orwell hatte zeitlebens ein großes Misstrauen gegen politische Extreme und beschrieb die Willkür der Kolonialherrschaft.

Tatsächlich fesselt Petras Inszenierung über weite Strecken durch die überraschende Aktualität des Stoffes: Maschinen übernehmen den Takt der Gesellschaft und Konzerne die Weltherrschaft. An alte Werte existiert nur noch eine ferne Erinnerung. Tiere existieren in der Vorführung nur noch als leblose Replikanten. Feindbilder werden erschaffen. Die Geschichte zeitigt unmenschliche Auswüchse. Eine offene Gesellschaft steht auf dem Spiel, wenn Falschheiten oder sogenannte alternative Fakten zur Wahrheit erklärt werden. Die beschriebene Zukunft erscheint in Teilen wie unsere Gegenwart.

Leider werden einige Szenen durch Wiederholung zu sehr überzeichnet, etwa wenn Ruckpauls Julia unzählige bunte Liebesperlen nacheinander ausspuckt und gegen Ende Unmengen an Kunstblut fließen. Auch die durchaus effektvolle Musikuntermalung verliert gegen Ende an Reiz. Trotzdem regt die Vorführung im Wissenschaftsjahr 2019 zur Künstlichen Intelligenz allemal zum Nachdenken an.
Ansgar Skoda - 6. Mai 2019 (2)
ID 11396
1984 (Deutsches Theater Berlin, 02.05.2019)
Regie: Armin Petras
Bühne: Olaf Altmann
Kostüm: Annette Riedel
Musik: Woods of Birnam
Musikalische Leitung: Christian Friedel
Liedtexte: Ludwig Bauer (Woods of Birnam)
Licht: Norman Plathe-Narr
Choreografie: Denis Kuhnert
Dramaturgie: Felicitas Zürcher und Bernd Isele
Besetzung:
Brother / Charrington … Christian Friedel
Winston Smith … Robert Kuchenbuch
Julia … Lea Ruckpaul
O'Brien … Wolfgang Michalek
Frau Parsons … Cathleen Baumann
Parsons … Thiemo Schwarz
Kinder der Parsons … Bria-Lorene Ackermann, Feras Al-Husseini, Hannah Baufeld und Jakob Ibrahim
Ampleforth … Andrei Viorel Tacu
Fem Proles … Rahel Ohm
Ein einsames Mädchen … Aline Blum
Woods of Birnam … Christian Friedel (voc, key), Christian Grochau (dr), Philipp Makolies (git) und Uwe Pasora (bass)
Premiere am Düsseldorfer Schauspielhaus: 12. Mai 2018
Weitere Termine in Düsseldorf: 29.05./ 11.06./ 14.07./ 03.10./ 16.11.2019
Gastspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses


Weitere Infos siehe auch: https://www.dhaus.de


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