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nachDRUCK # 6

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Uraufführung

SPAM

Fünfzig Tage


Foto (C) Stefan Bock


Roland Schimmelpfennig inszeniert sein Stück über den Coltanabbau in Afrika für die westliche Elektronikindustrie am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Roland Schimmelpfennig ist immer noch einer der meistgespielten deutschen Dramatiker, auch international. Nach seinem Stück Die vier Himmelsrichtungen (2011 bei den Salzburger Festspielen in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin uraufgeführt) ist es allerdings etwas ruhiger um den Autor des phantastischen Realismus geworden. Seit Mitte der 1990er Jahre bemüht Schimmelpfennig in seinen Stücken regelmäßig die Fantasie der Mythen und Märchen. Viele seiner Dramen wirken dabei wie lyrisch-magische Verlaufsformen einer infiniten Wohlstands-Gesellschaft am Rande des Kollapses. Neben dem 2009 verstorbenen Jürgen Gosch hat Schimmelpfennig seine Stücke auch immer wieder selbst uraufgeführt. Er bediente sich dabei aber nie der üblichen, vorhersehbaren Regietheatermätzchen. Mit dem parabelhaften Globalisierungsstück Der goldene Drache um den Zahn eines illegal in das deutsche Imbisswesen eingewanderten Chinesen kam er 2010 in Mülheim sogar zu besonderen Dramatikerwürden. Spätestens mit seinem in Berlin und Hamburg doppelt uraufgeführten Entwicklungshilfemelodramas Peggy Picket sieht das Gesicht Gottes befindet sich Roland Schimmelpfennig nun vollends auf dem dramatischen Schmusekurs mit der Dritten Welt. Die Faszination für den „dunklen Kontinent“ Afrika lässt ihn scheinbar nicht mehr los.

*

Zivilisatorische und soziale Themen der westlichen Welt mit dem kolonialen Mythos Afrikas zu verknüpfen, ist nicht ganz neu. Und so wirkt dann auch Schimmelpfennigs Auftragsarbeit für das DeutscheSchauspielHausHamburg wie eine U-Bahn-Fahrt ins Herz der Finsternis (Joseph Conrad) und stehen mit dem Riesen, Chef einer Metallmine, seiner Nummer zwei, dem schönen Johnny, und der blinden, um ihren verschütteten Mann klagenden Frau fast schon Koltés'sche Figuren im Zentrum von SPAM, einem, wie es im Programmbuch ganz ähnlich gedeutet wird, Beziehungsdrama in postkolonialen Zeiten. Es geht aber in erster Linie um die Ausbeutung der Bodenschätze Afrikas für die Produktion dessen, was uns in unserer Welt zur unerlässlichen Selbstverständlichkeit geworden ist. Die ständige Erreichbarkeit durch mobile Kommunikationsgeräte, die uns immer ausgeklügeltere Technologien verheißen. Wir haben die grenzenlos fliesenden Datenströme der Welt stetig am Ohr und produzieren den sogenannten Spam selbst am laufenden Band. Ein pausenloser Fluss von Stimmen und Zahlen wie der unablässige Regen, der die löchrige afrikanische Erde aufweicht, ausgehöhlt durch die Hände eines Riesen im Namen des Fortschritts.

Das sind Schimmelpfennigs dramatische Assoziationen. Eine von Anfang bis Ende nachvollziehbare Story zu erzählen, ist dabei sein Ding aber nicht, nie gewesen. Und so ist SPAM nicht nur unerwünschter, elektronischer Datenmüll, es ist ein Lang-Poem für mehrere Stimmen, eine 50tägige prophetische Albtraumreise durch Herz und Hirn. Schimmelpfennig stellt seinem Stück ein rätselhaft paradoxes Bild voran, das von den sechs Darstellern mit selbst zusammengeklebten Masken aus Pappe und Plastiktüten abwechselnd chorisch an der Rampe vorgetragen wird. Der Riese, dargestellt von Aljoscha Stadelmann, erzählt von einem Mann, durch dessen Kopf ein Zug fährt, in dem er sich wiederum selbst befindet. Zwei Ebenen des Stücks, die einer uns fremden afrikanischen Realität und die des Traums einer U-Bahnfahrt, die wieder in die unsrige Welt verweist. Die Bahn wird zum Schiff, das Diamanten, Gold und Coltan für besagte Smartphones aus Afrika holt und den Zivilisationsmüll zurückbringt. Der Kapitän ist eine Frau, Kati (Katja Danowski), die Geliebte des Riesen.

Der globale, kapitalistische Riese, der immer weiter wächst, je tiefer er sich in die Erde Afrikas gräbt, ist einerseits Sinnbild der postkolonialen Ausbeutung, aber andererseits auch für die große Sentimentalität und Liebessehnsucht, die ihn beim Hören der Klagegesänge der Frau (Lina Beckmann), blindgeworden über dem Verlust ihres Mannes (ein mit Matsch beschmierter Franz Hartwig), dem Licht ihrer Augen. Und drüber weg summt der allgemeine Kommunikationsstrom und schlägt der Beat der Herzen im Elektrosound und mit Liveschlagzeugbegleitung von Suzana Bradaric und Alex Jezdinsky. Zahlenreihen laufen per Videoprojektion wie der afrikanische Regen - hier auch mal mit Gießkanne erzeugt - über transparente Plexiglaswände.

Bühnenbildner Wilfried Minks, der vor drei Jahren noch am Thalia Theater selbst Schimmelpfennigs Peggy Picket inszenierte, hat dem Autor/Regisseur nun einen umgedrehten Turm von Babel an die Bühnenrückwand gehängt. Hier schraubt sich die Hybris des modernen Menschen nicht mehr in die Höhe. Der Riese gräbt sich auf der Suche nach dem Verschütteten in die Tiefe der Erde. Aljoscha Stadelmann verschwindet dabei schon mal bis zum Kopf in einem Bühnenloch. Was er zu Tage fördert, ist ein Pappschädel und weitere 400 Leichen für das Wachstum der westlichen Welt. Alles ist hier irgendwie mit allem verbandelt. Der Riese ist liebeskrank, der Produktionskreislauf steht für 50 Tage wundersam still, und die westliche Welt scheinbar auf dem Kopf. „Spam. Mach mich nicht ready.“ schreit der Chor ins Handy.

Schimmelpfennig benutzt Zahlen und biblische Motive ähnlich der Apokalypse des Johannes. Die Köchin Elena (Elizabeth Blonzen) prophezeit dem Riesen seinen Tod nach 50 Tagen. Es wird ihm das Herz verbrennen und zerreißen. Von Herz ist allgemein viel die Rede. In einer minutenlangen Kunstblutarie wird dem Riesen ein Ziegelstein einoperiert, und auch hier könnten z.B. Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz oder Heiner Müllers Herzstück Pate gestanden haben. Nach getaner Arbeit möchte man den Schauspielern direkt zurufen: „Aber es schlägt nur für Sie.“ Der Tod des Riesen tritt dann tatsächlich nach 50 Tagen ein. Der Geist des Verschütteten hat eine Bombe gebastelt, die in der U-Bahn explodiert. Ein apokalyptisches Bild der Zukunft, die eigentlich in Europa schon unter anderen Vorzeichen bittere Gegenwart war. Der Zweite (Jan-Peter Kampwirth), nun selbst Chef, wischt seine Tränen und die düstere Vision mit den Worten weg: „Machen wir weiter.“

Ja was denn auch sonst. Schimmelpfennigs Text ist zwar hübsch poetisch, ergeht sich aber immer wieder auch in recht schlichten Metaphern. Die ständigen Wiederholungen erzeugen ähnlich unsäglichem Handy-Gequassel ein konstant redundantes Geblubbere. Dazu stellt die Regie die Protagonisten leidend an die Rampe und lässt dem einfach freien Lauf. Der märchenhafte Umgang mit der Realität offenbart hier selbst aufs Schönste die naive Ahnungslosigkeit des Autors, die er nur mit ordentlich verkitschter Poesie zu verbrämen weiß. Irgendwie auch eine Kapitulationserklärung der Kunst und ein satter Schlag ins Gesicht von Theatermachern, die schon länger ernsthaft versuchen, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen. Schimmelpfennigs SPAM liefert den Ausdruck einer Gegenwartskunst, die Dramatik nicht mehr als Spiegel oder gar Möglichkeit, sondern nur noch als lyrisches „Attachment” der industriellen Wegwerfgesellschaft begreift. Man nennt das auch Feigenblatt.




Foto (C) Stefan Bock



Bewertung:    


Stefan Bock - 25. Mai 2014
ID 7856
SPAM (Deutsches Schauspielhaus, 23.05.2014)
Regie: Roland Schimmelpfennig
Bühne: Wilfried Minks
Kostüme: Lane Schäfer
Musik: Hannes Gwisdek
Dramaturgie: Michael Propfe
Licht: Susanne Ressin
Mit: Lina Beckmann, Elizabeth Blonzen, Katja Danowski, Paul Herwig, Jan-Peter Kampwirth un, Aljoscha Stadelmann
Uraufführung war am 23. Mai 2014
Weitere Termine: 1., 6., 24. + 30. 6. 2014
Auftragswerk für das DeutscheSchauSpielHausHamburg


Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspielhaus.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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