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Repertoire

Reigen formvollendeter Schicksalsschläge

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch


Ensemblemitglieder in Das Frühlingsopfer – Le Sacre du Printemps von Pina Bausch | © Bo Lahola

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Das Bühnenbild ist in Dunkelheit getaucht. Stühle stehen hier wie in einem Café umher. Eine junge Frau (Azusa Seyama) bahnt sich ihren Weg mit weit ausgestreckten Armen tastend zu sphärisch-schwelgerischen Klängen von Henry Purcell. Auf ihrem Weg stößt sie immer wieder gegen die hölzernen, vierbeinigen Hindernisse. Obwohl das Geschehen bald weich beleuchtet ist, stören selbige die unbeirrt leichtfüßig, jedoch trotzdem nicht zielorientiert wandelnde Frau mit den halbgeschlossenen Augen. Endlich stürmt ein junger Mann (Fernando Suels Mendoza) auf die Bühne, der überall da, wohin die Frau sich bewegt, die Stühle hastig zur Seite schiebt.

Café Müller liegen Kindheitserinnerungen Pina Bauschs zugrunde. Die bekannte Tänzerin, Choreographin und Ballettdirektorin (1940-2009) wuchs in Solingen auf. Gleich neben ihrem Elternhaus gab es eine Konditorei mit dem angeschlossenen „Café Müller“. Eine Caféatmosphäre erzeugt das Tanztheaterstück, indem immer wieder neue Besucher mit mehr oder weniger festgelegten Rollen das Geschehen plötzlich betreten und manchmal beeinflussen.



Ensemblemitglieder in Café Müller von Pina Bausch | © Bo Lahola


Ein weiterer junger Mann (Scott Jennings) begegnet so schließlich der wie in Trance wandelnden Frau, indem er sich ihr in den Weg stellt und nicht zurückweicht. Das Zwischen-den-Stühlen-Tanzen scheint ein Ende zu haben, denn beide berühren und umarmen sich jetzt. Doch nun betritt ein dritter Mann (Michael Strecker) die Bühne, der die körperliche Verbindung der beiden scheinbar nicht formvollendet genug findet. Er löst selbige und versucht den Körperkontakt der Beiden durch gezielte Beeinflussung zu kontrollieren: er hebt die Arme des Mannes an, legt den Körper der Frau behände auf selbige und geht dann mit eleganten Schritten weg. Doch noch bevor er die Bühne verlassen hat, eröffnet die neue körperliche Verbindung Schwierigkeiten. Das Festhalten der Frau fällt dem Mann zu schwer, sodass sie ihm langsam entgleitet. Der im Gehen begriffene dritte Mann kehrt zurück und versucht es erneut: die Arme des Mannes werden hervorvorgestreckt; die Frau wird angehoben und flugs auf seinen Armen platziert. Danach zieht der Einflussnehmer wieder von dannen. Doch es geschieht das Gleiche wie zuvor, jedoch nun in immer schnellerer Abfolge. Fallen und wieder aufstehen. Sich begegnen und sich sogleich wieder trennen. Es rührt an und bedrückt, diese vieldeutige Choreographie zu betrachten, die zeigt, wie Beziehungen und das eigene Bewusstsein doch oft von Dritten geformt und beeinflusst werden und vielleicht sogar abhängig sind. Themen sind hier, wie so oft bei Pina Bausch, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die Sehnsucht nach Kontakt, die Isolation, die Form und die Inszenierung der Form.



Ensemblemitglieder in Café Müller von Pina Bausch | © Bo Lahola


Nach dem 45minütigen bewegenden Café Müller gestaltet das Wuppertaler Tanzensemble Das Frühlingsopfer – Le Sacre du Printemps - erneut unter der künstlerischen Leitung von Lutz Förster. Die ebenso mitreißende und fulminante Tanzperformance wird nun im großen Ensemble dargeboten. Zu den Klängen von Igor Strawinskys Ballett-Meisterwerk von 1913 vollführen nun etwa zwei Dutzend Tänzer auf der nun knöcheltief mit Torf bedeckten Bühne halbnackt durcheinander wirbelnd oft erstaunlich punktgenaue, synchrone Bewegungen. Separiert meist in Männer- und Frauengruppen finden die Geschlechter in besonderen Spannungsmomenten scheinbar willkürlich zu Paaren zusammen. Die Aufeinandertreffen wirken jedoch disharmonisch, erregt und ruhelos. Es deutet sich ein Unheil an. Eine auserwählte Jungfrau soll in einem gemeinschaftlichen Ritual dem Frühlingsgott geopfert werden. Die Männer versuchen dem Zeremonieablauf mit gemeinschaftlichen, gebieterisch-spannungsvollen Gesten Herr zu werden, während die Frauen sich mehrfach ergriffen zitternd in einem engumschlungenen Kreis zurückziehen. Sie reichen das Opfergewand scheu reihum, doch keine unter ihnen möchte es behalten. Als der Anführer der Männergruppe (Andrey Berezin) schließlich das Opfer selbst bestimmt, bäumt sich selbige (Ditta Miranda Jasjfi) noch einmal in einem ergreifenden Solo auf und tanzt erbittert um ihr Leben. Während dieses packenden Finales versammelt sich das übrige Ensemble im Halbkreis um sie herum und betrachtet sie regungslos. Männer und Frauen sind durch das gemeinsame Opfer nun wieder vereint.



Ensemblemitglieder in Das Frühlingsopfer – Le Sacre du Printemps von Pina Bausch | © Bo Lahola


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Wim Wenders Kinofilm Pina von 2011 zeigt zahlreiche Ausschnitte aus Bauschs Das Frühlingsopfer. Wer von dem im Film gezeigten tänzerischen Ausdruck berührt wurde, sollte die Anreise nach Wuppertal nicht scheuen. Vor dem Hauptbahnhof fährt man mit der Schwebebahn zum Opernhaus (Haltestelle Adlerbrücke). Dies vermittelt einen sympathischen Eindruck von der Stadt, der Pina Bausch in all den Jahren ihres Schaffens die Treue gehalten hat. Karten für die Tanztheater-Vorführungen sollten allerdings frühzeitig bestellt werden. Ab dem 4. März widmet sich übrigens eine Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle der Pionierin des modernen Tanztheaters. Pina Bausch und das Tanztheater zeigt neben Objekten, Installationen, Fotografien und Videos einen Nachbau der sogenannten „Lichtburg“, des legendären Proberaums in einem alten Wuppertaler Kino, in dem Pina Bausch den größten Teil ihrer Stücke entwickelt hat. Hier runden dann Performances, Tanz-Workshops, Gespräche und öffentliche Proben die Sonderausstellung bis zum 24. Juli ab – Eine weitere Hommage und Annäherung an das Werk der viel zu früh verstorbenen Künstlerin.


Ansgar Skoda - 10. Februar 2016
ID 9126
CAFÉ MÜLLER / DAS FRÜHLINGSOPFER (Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, 30.01.2016)

Café Müller

Inszenierung und Choreographie: Pina Bausch
Bühne und Kostüme: Rolf Borzik
Künstlerische Leitung: Lutz Förster
Probenleitung und Assistenz: Dominique Mercy, Bénédicte Billiet und Thusnelda Mercy
Mitarbeit Einstudierung: Malou Airaudo und Héléna Pikon
Mit: Clémentine Deluy, Scott Jennings, Nazareth Panadero, Michael Strecker, Fernando Suels Mendoza und Azusa Seyama
Uraufführung im Opernhaus Wuppertal war am 20. Mai 1978

Das Frühlingsopfer - Le Sacre du Printemps
Choreographie: Pina Bausch
Bühne und Kostüme: Rolf Borzik
Mitarbeit: Hans Pop
Künstlerische Leitung: Lutz Förster
Probenleitung und Mitarbeit Wiederaufnahme: Barbara Kaufmann, Julie Shanahan und Kenji Takagi
Mit: Pablo Aran Gimeno, Emma Barrowman, Rainer Behr, Andrey Berezin, Damiano Ottavio Bigi, Lea Burkart, Michael Carter, Maria Giovanna Delle Donne, Clémentine Deluy, Çağdaş Ermis, Jonathan Fredrickson, Chang-Wen Hsu, Ditta Miranda Jasjfi, Scott Jennings, Marie Hanna Klemm,Thusnelda Mercy, Safet Mistele, Jan Möllmer, Blanca Noguerol Ramírez, Breanna O´Mara, Jorge Puerta Armenta, Azusa Seyama, Kai Strathmann, Michael Strecker, Fernando Suels Mendoza, Charlotte Virgile, Tsai-Wei Tien, Anna Wehsarg, Paul White, Simon Wolant, Ophelia Young, Chih-Ming Yu und Tsai-Chin Yu
Premiere im Opernhaus Wuppertal war am 3. Dezember 1975

Weitere Termine:
17., 18., 19. + 20. 3. 2016 (St. James Theatre, Wellington/Neuseeland)
6., 7., 8. + 9. 6. 2016 (Arena de Nîmes, Nîmes/Frankreich)


Weitere Infos siehe auch: http://www.pina-bausch.de/


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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