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Rezension

Tabula rasa

Gruppentanz und Klassenkampf


Bewertung:    



Die Regiekollegen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner haben sich ein weiteres Mal ein Stück des expressionistischen Dramatikers Carl Sternheim vorgenommen. Nach Aus dem bürgerlichen Heldenleben am Residenztheater München wird nun am Deutschen Theater die Komödie Tabula rasaaufgeführt. Sternheim verabschiedete mit seiner bösen Farce bereits 1916 die Ideale der Sozialdemokratie. Den Beinamen Gruppentanz und Klassenkampf, den Kuttner/Kühnel ihrer Inszenierung gegeben haben, kann man dabei als Schlingern durch Hundert Jahre Sozialdemokratie von der Bewilligung der Kriegskredite über Bad Godesberg bis zur Agenda 2000 verstehen. "Widerspruch" [s. Foto unten] plakatiert das DT außen. Und innen verquicken die beiden Macher von so widersprüchlichen Inszenierungen wie Die Sorgen und Macht (von Peter Hacks) und Capitalista, Baby! (nach Ayn Rands The Fountainhead) ihre aktuelle Bestandsaufnahme ganz provokant mit der Frage: Was war das eigentlich nochmal: links zu sein?

Diese und andere Fragen streut Schauspieler Jörg Pose immer mal wieder vom Rand der Bühne ein. Er sitzt dort vor einem alten Fernsehgerät und sieht Wie der Stahl gehärtet wurde, die Verfilmung eines Klassikers des sowjetischen Realismus von Nikolai Ostrovskijs. Der Held des Romans, Pavel Korčagin, ist der Prototyp des revolutionären Klassenkämpfers, der selbst sein Privatleben und die Gesundheit für die Idee des Kommunismus opfert. Die alte DDR-Schullektüre ist beredtes Anschauungsmaterial und angestaubtes Museumstück gleichermaßen. Die Hauptfigur in Sternheims Tabula rasa trägt zwar den stahlharten Namen Ständer, ist aber alles andere als ein standhafter Sozialdemokrat der ersten Stunde. Es ist eher die Beständigkeit, immer das eigene Wohl im Auge zu behalten, die ihn ausmacht.

Felix Göser, der schon den Willy Brandt in Kuttner/Kühnels Musical-Version von Michael Frayns Stück Demokratie gespielt hat, ist hier wieder ganz der Lebemann, wenn auch etwas spießig mit Zopf und Bademantel, und lässt sich die Butter nicht mal vom Brot gucken. Dabei sind Ständer bereits jegliche Visionen und Ideale, das Soziale betreffend, abhandengekommen. Der alte Arbeiter aus den Rodauer Glaswerken liebt die Bequemlichkeit und sorgt sich um sein Aktienpaket und die Rentenzulagen. Ständers bürgerliche Wohnstube gleicht auf der Bühne des DT einer Art gehobenem Arbeiterwohlfahrts- und Wohlfühlparadies mit angeschlossenem Bäderbetrieb. Sozialistischer Realismus schmückt hier nur noch die gekachelten Wände. Das ist bildhafte Satire pur, was nur noch durch die als blanke Karikaturen umherlaufenden Protagonisten getoppt wird.

Auch die tragen dank Sternheim alle sprechende Namen. Nachbar und Kollege Flocke (Michael Schweighöfer spielt wie immer als Knallcharge) ist ein begriffsstutziger Schluffi mit Wollmütze, der zwischen den wechselnden Winden treibt und leicht zu beeinflussen ist. Dagegen zeigt der ledernackige Langhaarfunktionär Sturm (Christoph Franken) noch entsprechende Qualitäten. Aber auch seine Art, mit speckiger Aktentasche und proletarischen Parolen ins Haus zu fallen, weiß Wilhelm Ständer zu nutzen. Sein erstes Ansinnen, die Arbeiter im Zuge einer Feier zum Betriebsjubiläum gegen die Leitung des Werkes aufzuhetzen, konterkariert er wenig später mit der Aktivierung von Flockes Sohn Artur als Gegenspieler. Daniel Hoevels spielt ihn als einen jung-dynamisch geföhnten Hochwasserhosen-Realo der 80er Jahre. Kuttner/Kühnel setzen auch bei den Kostümen auf deutliche Bildsprache.

Als schlechtes Gewissen der Sozialdemokratie fungiert ein von außen immer wieder hereinbrechender Arbeiterchor der Freischwimmer und singt alte revolutionäre Kampfeshymnen. Doch auch der Wedding ist schon lange nicht mehr rot, und gemäß Politdiskursler René Pollesch kann bekanntlich so ein Chor auch mal gewaltig irren. Wenn ein zaghaftes "Auf, auf zum Kampf" ertönt, schließt Ständer einfach die Türen. Erst ist er für den geplanten Bau einer Arbeiterbibliothek, nachdem aber die bewilligte Millionen seine Dividende in Gefahr geraten lässt, intrigiert der alte Fuchs wieder dagegen. Die Verwirrtaktik dient dabei als Ablenkungsmanöver von der eigenen fleckigen Weste. Die Gier nach Macht und Reichtum der Genossen Bosse stellen Kuttner/Kühnel als lustiges Laienspiel zur 100-Jahrfeier des Glaswerks in einer Szene aus Wagners Ring mit den Rheintöchtern (Lisa Hrdina als Ständers Nichte Isolde, Natalia Belitski als Flockes Tochter Nettel und Judith Hofmann als Magd Bertha) im Nixenlook und Kollege Flocke als diebisch frohlockendem Alberich.

Ständer ist der geborene Politiker der Hinterzimmerfraktion, geschickt weiß er die Fäden zu ziehen, und schiebt, als er nach einer blumigen Rede des Betriebsdirektors selbst Verantwortung in der Direktion übernehmen soll, den armen Kumpel Flocke vors Loch. Nachdem die Rente sicher ist, macht Ständer seine persönliche Tabula rasa und schickt alle in die Wüste. Der Gesellschaftsvertrag ist aufgekündigt, muss selbst Magd Bertha feststellen, die jahrelang für gute Worte wie ein Tier bei Ständer geschuftet hat. Das Kredo des alten, gerissenen Sozialdemokraten lautet: „Man kann jedenfalls in seinen Neigungen weit schweifen, um immer noch ein erstklassiger Genosse zu sein.“

Das ist Stichwort und Einstieg für Jürgen Kuttner, der nun zu erklären versucht, wie die alte Tante SPD eigentlich dahingekommen ist, wo sie heute steht? Der Weg zur Mitte und damit zur Macht als stetige Anbiederung an den Massengeschmack. Man will partout dazugehören. Zur Anschauung recycelt Kuttner einen alten Videoschnipselvortrag, in dem Cindy und Bert den Black-Sabbath-Klassikers Paranoid zum poppigen Hund von Baskerville mutieren lassen. Ein Werbespot für die SPD, wie uns Kuttner vermitteln will, mit einem zahnlosen Schoßhündchen als Mainstream-Coverversion ihrer selbst.

Das kommt gut an, aber auch sehr routiniert rüber. Das Wasser ist nicht gerade tief, in dem diese seichte Satire planscht. Wie Ständer scheuen auch Kuttner/Kühnel jegliches Risiko und setzen auf alte Ladenhüter und sichere Lacher. So kann das natürlich auch noch gut und gerne 20 Jahre weitergehen. Ständers robuster Gesundheitszustand spiegelt nicht nur die Beständigkeit der alternativlos biederen Politik der großen Koalition, sondern auch die Stumpfheit der Kunst, die vergeblich am Lack der Mächtigen zu kratzen versucht. Ob in Kuttners leicht aufgeregt quasseliger Art ein wenig echte Wut steckt, mag man ihm so nicht wirklich abnehmen. Die ständigen Umfaller im Willy-Brandt-Haus werden sich sicher zu Tode grämen, oder vor Lachen nicht mehr in den Schlaf finden.



"Widerspruch" am Gemäuer des Deutschen Theaters Berlin - Foto (C) Stefan Bock



Stefan Bock - 18. September 2014
ID 8104
TABULA RASA (Deutsches Theater, 11.09.2014)
Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner
Bühne und Video: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Live-Video: Marlene Blumert und Kristina Trömer
Dramaturgie: Claus Caesar
Live-Musik: Michael Letz
Besetzung: Felix Goeser (Wilhelm Ständer), Lisa Hrdina (Isolde Ständer, Nichte und Mündel von Wilhelm Ständer), Michael Schweighöfer (Heinrich Flocke), Daniel Hoevels (Artur Flocke, Sohn von Heinrich Flocke), Natalia Belitski (Nettel Flocke, Tochter von Heinrich Flocke), Christoph Franken (Werner Sturm), Jörg Pose (Paul Schippel), Judith Hofmann (Berta, Magd bei Ständer), Jürgen Kuttner (Der Arzt) und Michael Letz (Musiker)
Premiere war am 11. September 2014
Weitere Termine: 20., 25. 9. / 9., 14., 29. 10. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.deutschestheater.de/


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