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450 Jahre Shakespeare

Ophelia nach William Shakespeare von Kristof Van Boven im Werkraum der Münchner Kammerspiele



Abgelichtetes Aufführungsplakat zu Ophelia im Werkraum der Münchner Kammerspiele - Foto (C) Stefan Bock


Hamlet nacherzählt

Die Liste der Shakespeare'schen Dramengestalten ist lang. Viele der Hauptprotagonisten wie Hamlet, Macbeth, König Lear oder Othello sind zudem titelgebend und somit namentlich nach wie vor gegenwärtig. Darüber hinaus haben es noch einige wenige Nebenfiguren als Begleiter (Horatio, Mercutio) oder Antagonisten (Jago) des Helden zu etwas mehr Ansehen gebracht. Relativ bescheiden nimmt sich dagegen der Bekanntheitsgrad der bewusst handelnden Frauenfiguren in Shakespeares Tragödien aus. Nach Julia an der Seite ihres Romeos kommt da erst mal eine ganze Weile nichts, bis wir auf Cleopatra und Cressida stoßen, die auch noch in Stücktiteln verewigt sind, oder den aufbegehrenden Töchtern wie Portia und Cordelia. Zu guter Letzt bleiben noch die einfach nur tragisch und still leidenden Figuren wie Lavinia, Desdemona oder eben Hamlets Ophelia.

Das ist bereits 1838 Heinrich Heine aufgefallen, und in dem Essay Shakespeare's Mädchen und Frauen sang er, nachdem er den englischen Pietismus gegeißelt hatte, erst dem Dichter selbst und dann dessen Frauenfiguren eine Eloge. Als Inspiration für sein Auftragswerk dienten ihm dazu englische Stahlstiche mit fiktiven Porträts einiger Frauengestalten aus dem Werk Shakespeares. Im 18. und 19. Jahrhundert fanden vermehrt Darstellungen von tragischen Frauenfiguren des Elisabethanischen Dramatikers Eingang in die Bildende Kunst. Am bekanntesten ist da wohl die im Wasser treibende Ophelia des Präraffaeliten John Everett Millais aus dem Jahr 1852, Ausdruck einer romantischen Naturverehrung dieser Künstlergruppe.

In der Zeit der Frauenbefreiung und des Feminismus schlug dann aber zum Beispiel die Schriftstellerin Christine Brückner in ihrem 1983 erschienenen Buch Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen erstmals andere Töne an. Die von ihrem eifersüchtigen Gatten Othello Gemeuchelte hält hier nicht wie angeordnet den Mund, sondern darf noch einmal die letzte Viertelstunde im Schlafgemach des venezianischen Feldherrn aus ihrer Sicht rekapitulieren. Das war den Frauenfiguren im Hamlet bisher nicht vergönnt. Lediglich in dem Theaterstück des britischen Dramatikers Tom Stoppard Rosenkrantz und Güldenstern sind tot (1966) wird das Geschehen aus der Sicht der durch eine Gegenintrige Hamlets ums Leben gekommenen Höflinge auf absurde Weise neu erzählt.



*


Auch unter heutigen Theaterleuten scheint es wieder vermehrt in Mode gekommen zu sein, unterprivilegierten Nebenfiguren aus großen Dramen der Weltliteratur im Nachhinein mehr Augenmerk zu verleihen. Wie man eine vermeintlich schwache weibliche Nebenrolle aus einem bekannten Bühnenklassiker zum Glänzen bringt, hat übrigens die Regisseurin und Autorin Anja Gronau in dem preisgekrönten Theatermonolog Grete (3. Teil ihrer Trilogie der klassischen Mädchen) anhand des Gretchens aus Goethes Faust I unter Beweis gestellt. Weitere Beispiele hierfür sind die Stücke der niederländischen Autorin Lot Vekemans Judas und Ismene, Schwester von, die zurzeit in deutscher Erstaufführung an den Münchner Kammerspielen und dem Deutschen Theater Berlin zu sehen sind. Zwar in ganz unterschiedlicher dramatischer Qualität, jedoch gleichwertig starker Besetzung mit den Bühnenstars Steven Scharf und Susanne Wolff.

In Ophelia nach Shakespeare, einer Inszenierung des belgischen Schauspielers Kristof Van Boven - wiederum an den Münchner Kammerspielen - ist das Drama um Dänemarks dunklen melancholischen Prinzen Hamlet eigentlich schon gelaufen. Der dabei entstandene Dreck wird zu Beginn symbolisch von zwei Bühnenarbeitern aufgefeudelt. Das anschließende Schweigen zu brechen, ersteht nun ausgerechnet Nebenfigur Ophelia, die eigentlich schon nach der Hälfte des Stücks aus dem Leben scheiden musste, wieder auf. Marie Jung, akkurat im Trenchcoat mit Kurzhaarschnitt und Brille, schaut lange, freundlich bestimmt ins Publikum. In hohem Ton beginnt sie in einer Art Klagegesang von Vatermord und Bruderzwist zu singen. „O Hamlet, du zerspaltest mir mein  Herz.“ ist eigentlich ein Ausspruch von Hamlets Mutter Gertrud, die nach dem Tod von Hamlets Vater dessen Bruder Claudius geehelicht hatte. Es könnte aber auch gut den Gemütszustand Ophelias wiedergeben. Erst umworben, dann für fremde Interessen missbraucht, verraten und schließlich vom Geliebten wieder zurückgewiesen. Die Bitterkeit und Kälte am Hofe von Helsingör haben die junge Frau in den Wahnsinn getrieben.

Nun will Van Boven ihr erneut eine Stimme geben, um das Geschehen noch einmal aus ihrer Sicht aufzurollen. Doch was Marie Jung hier letztendlich tut, kommt leider über ein Nacherzählen von Shakespeares Mord- und Rachegeschichte nicht hinaus. Dazu noch sehr verkürzt, ohne jegliches Einziehen einer eigenen Reflexionsebene. Ziemlich emotionslos, fast wie ein seelenloses Wesen, spult Ophelia die Ereignisse vom ersten Erscheinen des Geistes von Hamlets Vater bis zur entscheidenden, totbringenden Fechtszene zwischen Hamlet und ihrem Bruder Laertes ab. Sie stand dabei stets nur im Hintergrund, auf Anraten von Vater und Bruder ihre eigenen Wünsche und Neigungen zurückstellend. Das scheint dann auch Prinzip dieser Inszenierung zu sein. Und dazu bedient sich Van Boven bekannter Zitate aus Shakespeares Text und lässt Marie Jung lediglich noch in sparsam gestischen Anspielungen agieren.

Es sind eh alles nur "Worte, Worte, Worte", wie sie selbst betont. "Sein oder nicht sein... Es ist was faul im Staate Dänemark... Mehr Inhalt, weniger Kunst." Wohl, wohl. Sehr viel mehr haben uns Ophelia wie auch die Inszenierung nicht zu sagen. Das geht soweit, dass Marie Jung sich in eine kleine Nasszelle zurückzieht, die Wanne einlässt, ein Radio anstellt und sich ein Tuch fest um den Hals schlingt. Irgendwie erinnert das an ein bekanntes Stück ohne Worte, und zwar an Wunschkonzert von Franz Xaver Kroetz. Die junge Frau plagen sichtlich Selbstmordgedanken und die Bee Gees singen dazu "Tragedy". Das Radio fällt in die Wanne und der Strom für kurze Zeit aus. Nacht ist's in Helsingör, Rache und Intrigen nehmen ihren Lauf, woran auch Ophelia im Nachhinein nichts ändern wird. Hätt' ich doch geschwiegen, ist die einzige Selbstreflexion der Enttäuschten, die nicht über den Verlust ihrer Liebe hinweggekommen ist. Der Rest ist so rätselhaft wie der ganze Hamlet selbst und schlussendlich herrscht wie immer Schweigen. Zum irischen Wild Rover schiebt Marie Jung dann noch ein großes Fabelwesen im Eisbärenpelz nach vorn, an das sie sich sehnsüchtig schmiegt. "Tell my Story" darf man hier vermutlich auch weiterhin als eine Anweisung, die Geheimnisse des Prinzen betreffend, deuten.


Bewertung:    
Stefan Bock, 25. April 2014 (2)
ID 7774
OPHELIA (Werkraum, 17.04.2014)
Regie: Kristof Van Boven
Bühne und Kostüme: Sina Barbra Gentsch
Licht: Jürgen Kolb
Dramaturgie: Matthias Günther
Mit: Marie Jung
Premiere war am 3. April 2014
Weitere Termine: 5. + 20. 5. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.muenchner-kammerspiele.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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