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Nachtfahrt

ins Ungewisse



Komi Togbonou in Herz der Finsternis am Theater Bonn | (C) Thilo Beu

Bewertung:    



Die Entdeckungsreise beginnt schon auf dem Weg hin zur Halle Beuel. Auf dem Gelände der Außenspielstätte des Theaters Bonn hängen phantasievolle Plakate und Graffitis, die Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Joseph Conrads Herz der Finsternis mit ungewöhnlichen Bildern bewerben. Im Theatersaal überrascht dann eine vielfältige Bestuhlung, die neben den üblichen Sitzreihen insbesondere auf den hinteren Plätzen auch zahlreiche unterschiedliche komfortable Sessel und Sofas bereithält. Im Zentrum der Bühne prunkt ein kleiner Flussdampfer namens „Roi de Belges“ (Bühnenbild: Julia Kurzweg), vor dem sich die überwiegend männlichen Darsteller lässig in kurzen Hosen und Hawaiihemden vor Reisebeginn auf Klappstühlen lümmeln. Elfenbein, Diamanten, Gold und andere Bodenschätze locken in die Wildnis Afrikas und können unter dem Deckmantel der Kolonialisierung erobert werden. Bald wird die Besatzung des notdürftig hergerichteten Dampfers verstörende Erfahrungen des Anderen und Fremden auf dem Kongo machen. Heart of Darkness, die vielgerühmte, englischsprachige Erzählung des Polen Joseph Conrad von 1899, inspirierte nicht nur Virginia Woolf zu ihrem beachtlichen Romandebüt The Voyage Out (1915), einem komplexen Bildungs- und Reiseroman, sondern wurde mehrfach verfilmt - u.a. 1979 starbesetzt von Francis Ford Coppola als Apocalypse Now - und dient heute auch als Vorlage mehrerer Computerspiele.



Herz der Finsternis am Theater Bonn | (C) Thilo Beu


Conrads 150seitige Novelle handelt vom jungen Kapitän Marlow, der um 1890 den afrikanischen Kontinent bereist und hier dem zwielichtigen, aber charismatischen Elfenbeinhändler Kurtz begegnet. In der Figur des Egomanen Kurtz personifiziert Conrad die in Afrika dominierende Kolonialmacht, die menschenverachtend, gierig, größenwahnsinnig und korrupt die Eingeborenen ausbeutet. Verschwommene Bilder und eine Atmosphäre der Unwirklichkeit stehen bei Conrad für die Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers gegenüber den völlig neuen Eindrücken auf seiner Reise.

Fremdheitserfahrungen im "Herzen der Finsternis" machen die Besucher von Gockels Inszenierung auch bei einer minutenlangen Sequenz, in denen sich die Figuren im nächtlichen Halbdunkel auf dem Schiff hin und her bewegen, ohne zu agieren und Gezwitscher und anderen Klängen des Dschungels lauschen (musikalische Leitung: Jacob Suske). Die Darsteller verkörpern abwechselnd Figuren aus Conrads Werk, bereichern dies um Tagebuchausschnitte des Dichters, führen Schauspielerdialoge und spielen auch historische Persönlichkeiten. Alois Reinhardt verkörpert so anfangs Leopold II., den König der Belgier, der im Zuge der Berliner Kongokonferenz 1884/85 den Kongo zum Freistaat erklärt und sich hier so nun als alleiniger Herrscher nach Belieben bereichern kann. Am Beispiel eines Kuchens wird Afrika in der kabaretthaft dargestellten Kongokonferenz unter den weniger großen Kolonialmächten Europas aufgeteilt. Stücke vom schokoladenüberzogenen Kuchen werden von den Darstellern auch in das Publikum gereicht, natürlich bekommt nicht jeder eines ab, obwohl der Kuchen für alle ausreichen könnte.

Der farbige Darsteller Komi Togbonou spielt mit weiß angemaltem Gesicht den Kolonialisten Kurtz und scheucht die halbnackten „Wilden“ Benjamin Grüter, Hajo Tuschy und Alois Reinhardt über die Bühne, die sich dem Publikum verzückt annähern und spätestens beim Entblättern von Bananen oder beim Sich-Entblättern mit baumelnden, dunkelfarbigen Riesenphallus-Attrappen für absurde Unterhaltung sorgen. Diese zynische Szenerie wird jedoch von Videoprojektionen unterbrochen, in denen Schreckensbilder des Kolonialismus wie erschossene Elefanten, abgetrennte Stoßzähne oder der Völkermord an 10 Millionen Kongolesen gezeigt werden. Laura Sundermann vergleicht in einem bemerkenswerten Monolog ihre Rolle als Frau mit einem „schwarzen Kontinent“, in den es einzudringen gelte und erinnert dabei an Schriften Sigmund Freuds. Gegen Ende neigt sich das Schiff gefährlich zur Seite und heißt nun „Roi d’afrique“. Während sich die übrige „weißhäutige“ Besatzung nun Hals über Kopf von Bord rettet, bleibt Komi Togbonou alleine zurück und erinnert von der Schiffsreling hinuntersprechend an das eine oder andere, zum Kentern verurteilte Flüchtlingsboot aus Afrika, dass jüngst den Weg gen EU auf sich nahm. Ein starkes Bild. Leider geben die aber sonst oft nicht eindeutig zuordenbaren Figuren den Darstellern wenig Raum, sich zu entfalten oder Profil zu entwickeln. Nichts desto Trotz eine ungewöhnlich ideenreiche, atmosphärische, eindrucksvolle und aufregende szenische Collage, die in Erinnerung bleibt. Sehr lesenswert ist auch das Programmheft mit einem fiktiven Selbstgespräch König Leopolds von Mark Twain und einem jüngst erschienen Essay Samiha Shaftys über die deutsche Straße im heutigen Kongo.



Komi Togbonou, Alois Reinhardt, Benjamin Grüter und Hajo Tuschy in Herz der Finsternis am Theater Bonn | (C) Thilo Beu

Ansgar Skoda - 29. Mai 2015
ID 8674
HERZ DER FINSTERNIS (Halle Beuel, 28.05.2015)
Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Amit Epstein
Musikalische Leitung: Jacob Suske
Musik: Jacob Suske, Komi Togbonou, David Schliesing
Licht: Helmut Bolik
Schnitt: Merten Lindorf
Dramaturgie: David Schliesing
Mit: Benjamin Grüter, Alois Reinhardt, Laura Sundermann, Komi Togbonou, Hajo Tuschy und David Schliesing
Premiere am Theater Bonn war am 23. April 2015
Weitere Termine: 30. 5./ 3., 5., 9., 18. 6. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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