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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Kein guter

Mensch in

Murnau



Zur schönen Aussicht von Ödön von Horváth am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) David Baltzer

Bewertung:    



Die drei Götter erscheinen hier als gefallenes Fräulein in Strassers verlottertem Hotel, wo die alte Dame von Stetten schon zu Besuch ist und die hier gestrandeten Knaben tanzen lässt. Am Ende erweisen sich weder der goldherzige Herr Direktor noch seine Komparsen als würdig, gerettet zu werden. Bei Brecht käme dann vielleicht die erlösende Lawine, bei Horváth fährt Christine einfach wieder ab. Das ist mit Sicherheit die größere Strafe für die Hinterbleibenden.

Ödön von Horváth liefert in seinen Stücken Milieustudien, die Hauptmanns Ratten oder Falladas Kleinem Mann in nichts nachstehen. Was hätte dieser Autor noch schreiben können, wenn ihn nicht ein verdammter Ast auf den Champs-de-Elyssees getroffen hätte… Der liebe Gott ist schlecht organisiert.

Aber zumindest im Unglück ist er verlässlich, und so dümpelt Strassers Sommerfrische vor sich hin, der einzige Gast, die Baronin von Stetten, leistet Beihilfe zur Insolvenzverschleppung und bedient sich am vorhandenen willfährigen Männermaterial. In diese stabile Tristesse bricht Christine ein, ein Fräulein aus dem Proletariat, vor einem Jahr vom immer noch charmanten Ex-Filmkünstler Strasser urlaubsbedingt geschwängert, aus Langeweile vermutlich, sein goldenes Herz lässt grüßen. Natürlich wird sie als Bedrohung wahrgenommen, noch eine mehr, die aus der leeren Schüssel löffeln will, und dann auch mit Balg.

Rettung naht scheinbar mit dem ungeliebten Bruder der Baronin, den eine finanzielle Unpässlichkeit hertreibt und der aus dem reichen Erfahrungsschatz der Hochwohlgeborenen Herren schöpfen kann, was das Abservieren lästig gewordener Geliebter angeht. Und so wird Christine als Hure vorgeführt, an deren Nymphomanie sich in den fraglichen zwei Wochen die komplette Herrenschaft des Hotels erfreuen durfte. Eine Vaterschaftsklage scheint unter diesen Bedingungen aussichtslos, an den DNA-Test war dazumal noch nicht zu denken. Und so scheint Christine aus dem Rennen, die schäbige Idylle ist wieder hergestellt.

Zwischendurch lässt Frau Baronin alle mal blank ziehen, eine beeindruckende Orgie in jedweder Hinsicht. Das hätt ich gern auf Video.

Doch das Blatt wendet sich, als Christine die Sache mit der Erbschaft erwähnt. 10.000 Mark stehen zur Disposition (und das war in den „goldenen Zwanzigern“ deutlich mehr als lächerliche 10 T€ heute). Herr Direktor schläft das Gesicht ein, die anderen Herren entdecken ihre tiefen Gefühle für das Fräulein. Eine wilde Balz beginnt. Christine genießt die Situation ein wenig, aber keiner der Bewerber hat die Spur einer Chance. 5.07 Uhr geht der erste Zug, den wird sie nehmen. Zurück bleibt das Hotel Zur schönen Aussicht, dessen Name glatt gelogen ist.

* * *

Dass das Stück großartig ist, wurde hoffentlich bis hierher deutlich. Doch Gleiches lässt sich auch über die Umsetzung sagen: Das Palais im Großen Garten mit seinem morbiden Charme ist eine ideale Kulisse, von einem raffinierten Bühnenbild voller lustiger Kleinigkeiten nebst Video und Licht wird dies kongenial genutzt.

Nach einem etwas zähen Start spielt sich auch das Ensemble frei, neben großartigen Einzeleinlagen von Max (Sebastian Pass) und Bubi (Claudius von Stolzmann – welche Name!) sind vor allem die Gruppenszenen eine besondere Erwähnung wert. Die „Neuen“ fügen sich ins Dresdner Schauspielwesen gut ein, dennoch bleiben die bekannten Gesichter Antje Trautmann (kraftvoll und schmutzig als Baronin) und Thomas Eisen (jovial und zynisch als Strasser, ein idealer Horváth-Darsteller, wie schon im Wienerwald zu sehen war) am stärksten im Gedächtnis. Paula Skorupa hat bei ihrem Dresdner Debüt als Christine viel bedeutungsschwanger herumzustehen, nutzt aber die wenigen Gelegenheiten, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Ereignis ist die gesungene Begleitung durch Gilbert Handler, der auch die Musik im Ganzen verantwortete und das Stück damit zusammenhält.

Nach der letzten leider unvollendeten Regiearbeit in Dresden (was man dem betreffenden Stück deutlich anmerkt) meldet sich Susanne Lietzow eindrucksvoll zurück. Die Inszenierung ist ein Augen- und Ohrenschmaus, verzichtet dankenswerterweise auf jede Zwangsaktualisierung (nein, das Wort Burka fällt nicht im Stück) und setzt Maßstäbe für diese ohnehin spannende Dresdner Saison. Bravo.



Zur schönen Aussicht von Ödön von Horváth am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) David Baltzer


Natürlich gibt es auch was zu nörgeln: Das merklich gestraffte Programmheft ist (auch grafisch) besser lesbar, aber ich vermisse schmerzlich die Angaben zu Autor, Ensemble und Inszenierungsteam. Gerade das war nämlich bislang ein Dresdner Vorzug. Will ich wiederhaben.
Sandro Zimmermann - 26. August 2016
ID 9504
ZUR SCHÖNEN AUSSICHT (Palais im Großen Garten, 25.08.2016)
Regie: Susanne Lietzow
Bühne und Kostüm: Marie-Luise Lichtenthal
Musik: Gilbert Handler
Video: Petra Zöpnek
Dramaturgie: Julia Weinreich
Licht: Olaf Rumberg
Besetzung:
Max ... Sebastian Pass
Karl ... Holger Bülow
Müller ... Marcus Off
Strasser ... Thomas Eisen
Emanuel Freiherr von Stetten ... Claudius von Stolzmann
Ada Freifrau von Stetten ... Antje Trautmann
Christine ... Paula Skorupa
Blonde Geige ... Gilbert Handler
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 25. August 2016
Weitere Termine: 26. - 28., 30. 8. / 1. - 4., 6. - 12., 15. - 18. 9. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de


Post an Sandro Zimmermann

teichelmauke.me



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