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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Bühnenklamauk

als Kapitalismus-

Kritik



Schlaraffenland an den Hamburger Kammerspielen | Foto (C) Anatol Kotte

Bewertung:    



So mancher fühlt sich beim Begriff "Schlaraffenland" an das um 1567 entstandene Gemälde Pieter Bruegels des Älteren erinnert: Um eine Art »Tischlein-deck-dich-Baum« ruhen ein Ritter, ein Bauer und ein Gelehrter. Der Ritter mit Lanze und Eisenhandschuh liegt auf einem Kissen, der Bauer schläft auf seinem Dreschflegel, und der Gelehrte hat es sich auf seinem Pelz gemütlich gemacht, neben ihm Buch und Papier.

Heute wird "Schlaraffenland" sprachlich durchgängig im übertragenen Sinne verwendet, um auf ein Paradies der Völlerei und des Müßiggangs hinzuweisen.

Ein Buch, das der Autor Philipp Löhle, der Geschichte, Theater- und Medienwissenschaft sowie Germanistik studiert hat, sicher kennt, ist Dieter Richters luzide literarische Analyse Schlaraffenland: Geschichte einer populären Utopie (1986). Sie vermittelt u.a. die Einsicht, das Schlaraffenland sei "in der älteren volksliterarischen Überlieferung Europas nicht nur das nahrhafteste Märchen des Volkes (Ernst Bloch)", denn "es ist, weit über das Land des freien Essens und Trinkens hinaus, radikales Wunschbild einer den bestehenden Zuständen entgegengesetzten Welt. Hier herrschen ein neues Verhältnis zur Natur, eine neue Ökonomie, eine neue Moral; und auch der Lebensquell fließt in Schlaraffenland."

*

Nun hat Philipp Löhle in Hamburg sein titelgebendes Schlaraffenland präsentiert, ein – so die Ankündigung – "autobiografischen Stück", mit dem er die Naivität der Massen aufs Korn nimmt, deren verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit geißelt und die übersättigte Wohlstandsgesellschaft dekonstruktiv als fiktives Schlaraffenland entlarven möchte. Dies alles präsentieren die Schauspieler, indem sie die abgestandenen Erkenntnisse (auf Anweisung der Regie) durchgängig hinausschreien und dabei wohl meinen, dem selbstironischen Ohnmachtsbekenntnis des Autors den adäquaten Nachdruck zu verleihen.

Gezeigt wird eine "stinknormale" westliche Wohlstandsfamilie, die in einem schrecklich simplen Einfamilienhäuschen wohnt, gleichwohl alles überreichlich besitzt und ausnutzt: Essen, Skateboards, Ferien, Schönheitsoperationen etc. Eines Tages wird sich indes der Sohn (von Jacob Matschenz leider zuweilen arg nuschelig gesprochen) der fatalen Einbettung in den universalen Kapitalismus bewusst und glaubt in seiner Naivität, die "Spontanerkenntnis" den restlichen Familienmitgliedern vermitteln zu müssen und diese, zu deren Verärgerung, als Requisiteure der Prosperität entlarven zu sollen. Szenisch wird das Erweckungserlebnis durch schwarz gekleidete Männer begleitet, die "hinter den Kulissen" damit beschäftigt sind, den Gang der (Theater-)Geschichte am Laufen zu halten.

Das Anliegen des handlungslosen Stückes, das kaum dramatische Spannung enthält, erschöpft sich in phrasenhaften "Dialogen" über politische Binsenwahrheiten, die Goethes Spruch aus dem Westöstlichen Divan ins Gedächtnis rufen: "Getret‘ner Quark wird breit, nicht stark". Das Szenengehampel mit Bürgerschreckgestus der bedauernswerten, wild gestikulierend sich mühenden Darsteller kann im Verlauf des Abends nur eines auslösen: gähnende Langeweile. Das geduldige und am Schluss die Darsteller höflich beklatschende Publikum erlebte an diesem Abend keine Farce, keine Satire, keine Karikatur, sondern nichts außer einer banalen, larmoyanten Zustandsbeschreibung unserer übersättigten Wohlstandsgesellschaft.

Es müssen nicht die griechischen Dichter wie Telekleides oder Pherekrates sein, nicht Boccaccio (mit seinem Land namens Bengodi), nicht die Utopie des irischen Cokaygne, nicht Sebastian Brants Narrenschiff-Parodie auf das Paradies oder Wilhelm Grimms Märchen vom Schlauraffenland, die wir vergleichsweise heranziehen könnten – aber mit der Übernahme dieser banalen Klamotte und ihrer Umsetzung im Format einer Schüleraufführung hat die Intendanz der Hamburger Kammerspiele sich und ihren treuen Zuschauern beileibe keinen Gefallen getan.

Dem bislang recht erfolgreichen, sympathischen Autor seien diesmal mahnend jene Zeilen aus Hans Sachs‘ Meistersang vom Schlaraffenland ins Gedächtnis gerufen, die im hervorragend gestalteten Programmheft abgedruckt sind: "Viel Kurzweil ist in jenem Land zu finden. So schießen die Bewohner dort auf ein Ziel: wer am weitesten trifft vom Zentrum, gewinnt den ersten Preis."



Schlaraffenland von Philipp Löhle | (C) Hamburger Kammerspielen

Christoph Gutknecht - 4. Oktober 2017
ID 10296
SCHLARAFFENLAND (Hamburger Kammerspiele, 02.10.2017)
Regie: Henning Bock
Ausstattung: Martin Fischer
Mit Isabell Fischer, Thomas Klees, Jacob Matschenz, Hanna Stange, Oliver Warsitz und Monika Wegener
Premiere war am 2. Oktober 2017.
Weitere Termine: bis 11.11.2017


Weitere Infos siehe auch: http://hamburger-kammerspiele.de


Post an Prof. Dr. Christoph Gutknecht

christoph-gutknecht.html

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