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Premierenkritik

25. April 2014 - Ballhaus Ost

POSEN IN ANGST

von Wenzel & Zybowski


Der 1976 im polnischen Łódź geborene Przemek Zybowski kam mit neun Jahren nach Deutschland, studierte später Medizin und machte eine Weiterbildung in der Psychoanalyse. Seit 2007 schreibt er Prosatexte und Theaterstücke. Johannes Wenzel, 1977 in Karlsruhe geboren, kam über ein Studium der Philosophie und Germanistik zum Theater. Nach mehreren Hospitanzen und Gastassistenzen führt er seit 2005 selbst Regie. Gemeinsam bilden die Beiden seit sechs Jahren ein Autor-Regie-Team. Dabei sind mittlerweile einige Theaterproduktionen in Berlin und Hamburg entstanden. Vor einem Jahr zeigten Wenzel/Zybowski im Ballhaus Ost Rom - die lange Rückkehr in den Westen, eine deutsch-polnische Geschichts- und Familienabrechnung. Ihre neue Produktion Posen in Angst hatte nun wiederum im Ballhaus Ost Premiere.

Autor Zybowski kann man hier durchaus eine Neigung zum Phantastischen bescheinigen. Sein Stück kommt zunächst wie eine Art Science-Fiction daher, eine Dystopie auf das Onlinezeitalter. Im Jahr 2040 sind die Menschen der westlichen Welt via implantiertem Chip mit einem übergeordneten Online-Bewusstsein verbunden. Da bricht in der EU ein nicht näher beschriebener mysteriöser Online-Virus, der mit einem Gedächtnisverlust einhergeht, aus und stürzt den Westen in eine Krise. Der sich noch offline befindliche Osten wird plötzlich zum Flucht- und Sehnsuchtsort der orientierungslosen Menschen. Der Autokrat Putin dagegen hat bereits Polen und das Baltikum besetzt und steht mit der russischen Armee wiedermal an den Seelower Höhen. Zybowski nimmt mit seinem Stück die Ängste der westlichen Welt und ihre Projektionen auf den Osten aufs Korn. Der Russe kommt, und die EU droht in einem Krieg unterzugehen.

Im Lazarettlager des zynischen Arztes Che (Andreas Nickl) in Berlin kreuzen sich die Geschichten von fünf ganz unterschiedliche Personen. Die idealistische Wissenschaftlerin Katja (Vera Löbau) sucht verzweifelt nach einem Impfstoff, dessen Träger sie in Boris (Johannes Suhm) sieht, der auf der Flucht nach Posen zum alten Landsitz derer von Bonin ist. Im Gepäck hat er die alten Germania Möbel, die die Gräfin von Bonin einst auf ihrer Flucht vor den Russen nach Berlin im Brandenburgischen vergraben hatte sowie die Jüdin Rebekka (Lale Yavas) und deren Mutter Martha (Michaela Hinnenthal), die eigentlich auf dem Weg nach Jerusalem waren. Boris steht nun zwischen seiner Liebe zu Rebekka und Katjas Drängen aus seiner DNA, die mehr einem Tier als einem Maschinenmenschen gleicht, und dem Extrakt der Germania Möbel, als Träger von Erinnerungen, den erforderlichen Impfstoff zu gewinnen.

Klingt das auch irgendwie ziemlich verrückt, so hat es doch Methode. Zybowski mixt geschickt kaum verständliche wissenschaftliche Details, biblische und jüdische Mystik mit Daten und Ereignissen aus der europäischen Geschichte und Gegenwart. Während man im Inneren über die Rettung der Onlinewelt philosophiert, lässt der Arzt Che die Infizierten, die das Lazarett wie die rettende Arche Noah der Online-Zivilisation belagern, immer wieder durch Schlägertrupps in die Quarantänestation nach Tempelhof bringen. Seine Gedanken vertraut der Arzt seinem persönlichen Logbuch an. Michaela Hinnenthal ist hier in einer schönen Doppelrolle als verfremdete Computerstimme (HAL aus Kubricks 2001 lässt grüßen) und Orakel Martha zu sehen. Sie sieht in Boris einen neuen Zaddik, einen Gerechten zur Rettung des jüdischen Volks.

Zybowskis Stück ist durchaus auch als politische Satire zu verstehen. So hält Boris wie in Trance einen hochkomischen Monolog über das Zustandekommen des polnischen EU-Beitritts, den der trinkfeste und hitzeresistente Helmut Kohl Boris Jelzin und Michail Gorbatschow in der Sauna abgerungen hat. Eva Löbau darf dann noch einmal in einem verzweifelten Aufruf an die Vernunft und Freiheit des Online-Individuums brillieren. Da aber ist der Versuch einer Therapie des Online-Bewusstseins bereits gescheitert, und das einerseits befürchtete wie anderseits erhoffte Offlineloch hat sich aufgetan. Offline ist Tabula Rasa, wie Katja prophezeit, es herrscht Maschinendämmerung. Die Gruppe steht den sich neu auftuenden Möglichkeiten am Ende doch noch etwas ratlos gegenüber.

In Przemek Zybowski Text geht es immer wieder um Erinnerungen, kollektive wie individuelle, und deren Verlust. Amnesie folgt Amnestie und umgekehrt. Wer oder was bestimmt unsere Erinnerung? Und was tragen kollektive Erfahrungen und einzelne Biografien dazu bei? In der Stadt Berlin, die immer auch ein Tor zum Osten war, treffen nach wie vor die verschiedensten Geschichten, Werte und Erfahrungen aufeinander. Andererseits enthält das Stück auch eine Zivilisations- und Technikkritik. Der moderne Mensch hat sein Gedächtnis längst an Maschinen abgegeben, die er nicht mehr kontrollieren kann, die ihn aber umso kontrollierbarer machen.

Gebrochen wird Zybowkis schier überbordender Text immer wieder mit den melodiösen Synthie-Pop-Balladen des Musikers Friedrich Greiling (Mittekill), die das Stück thematisch gut ergänzen. Gespielt wird vor einer Art Eiszeitkulisse, die mit Installationen und Fabelwesen der bildenden Künstler Tobias Yves Zintel und Philip Wiegard bevölkert sind. Ein etwas mutigerer Eingriff des Regisseurs Johannes Wenzel und ein paar Striche mehr hätten dem ca. 1 3/4 Stunden dauernden Abend sicher auch gut getan. Wenzel nimmt den Text aber sehr ernst und vermeidet so eine Überironisierung der Geschichte.



Posen in Angst im Ballhaus Ost - Foto (C) Philip Wiegard


Bewertung:    
Stefan Bock - 27. April 2014 (2)
ID 7781
POSEN IN ANGST (Ballhaus Ost, 25.04.2014)
Text: PRZEMEK ZYBOWSKI
Regie: JOHANNES WENZEL
Art Direction: TOBIAS YVES ZINTEL
Musik: FRIEDRICH GREILING
Produktionsassistenz / Musikdramaturgie: MONICA SUTEU
Mit: MICHAELA HINNENTHAL, EVA LÖBAU, ANDREAS NICKL, JOHANNES SUHM und LALE YAVAS
Kunstwerke von: PHILIP WIEGARD und TOBIAS YVES ZINTEL
Premiere war am 25. April 2014
Weitere Termine: 28. 4. / 3. 5. 2014
EINE PRODUKTION VON WENZEL & ZYBOWSKI IN KOOPERATION MIT DEM BALLHAUS OST UND DEM TEATR NOWY POZNAN


Weitere Infos siehe auch: http://ballhausost.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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