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Premierenkritik

Interessant



(C) Thalia Theater Hamburg

Bewertung:    



Etwas „interessant“ zu nennen ist leider zu einem inflationär gebrauchten Euphemismus für etwas im Kern für schlecht Befundenes geworden. Zu Unrecht, denn das Wort „interessant“ birgt so viele Nuancen, die beispielsweise eine Theaterinszenierung trefflich charakterisieren können. „Interessant“, das bedeutet doch vor allem: eine Sache, die Neugier weckt ohne ganz verstanden zu sein; etwas, bei dem es noch mehr zu denken oder zu forschen gilt. Und in diesem Sinne ist auch die Inszenierung Nathan die Weise von Leonie Böhm INTERESSANT.

Die Inszenierung tritt mit gleich zwei erklärten Zielen – laut Programmheft – an: zum einen, das Lessing'sche Stück von seiner thematischen Bindung an Religion zu befreien und zu einer Auseinandersetzung über frei flottierende Identitäten in einer Gesellschaft und deren Anspruch auf „Richtigkeit“ oder „Angemessenheit“ zu lesen - zum anderen Lessings Text als „Emazipationsstück für alle Laienpredigerinnen“ zu machen.

Zu sagen, dass Nathan die Weise mit dem Lessing'schen Text frei umgeht, ist eigentlich schon zu viel gesagt – die Inszenierung hat mit diesem eigentlich gar nichts mehr zu tun. Er dient lediglich als Referenzfläche, um eine neue Geschichte in dichterer Form erzählen zu können. Obschon die Inszenierung damit an das Vorwissen des Publikums appelliert und ohne solches vermutlich eher nur oberflächlich verstanden werden wird, gibt es zwei Elemente, die zumindest die Basisgeschichte verstehen helfen. Dies ist zum einen die in Form einer Art Rap vorgetragenen Zusammenfassung der Ereignisse, die in etwa den ersten Akt von Lessings Nathan umfasst und beinahe ein Drittel der gesamten Dauer des Stücks in Anspruch nimmt. Dass das ausgesprochen witzig und kurzweilig ist, ist vor allem der schauspielerischen Leistung von Steffen Siegmund zu verdanken. Er gibt diesen Monolog-Rap als Erzähler wieder, der das Geschehen vom Hörensagen kennt, der sich zugleich aber auch mehrfach selbst als der Tempelherr identifiziert gibt, über den er in der dritten Person berichtet. Bereits hier ist also recht klug ein Spiel mit Identität(en) angelegt.

Auf den Monologteil folgt ein etwas irritierendes Intermezzo mit einem kindischen Nathan, der unverständliches Zeug brabbelt und mit einem Zimmerspringbrunnen spielt, wobei ihm Recha als Assistentin dient, die die Fontäne „orchestriert“. Zum Abschluss dieser Episode muss sich Recha auf sein Geheiß wie die Figur in einer Spielfigur drehen – und gerät schließlich außer Kontrolle. Was auf Anhieb einigermaßen irritiert (und damit ein Element ist, das diese Inszenierung interessant macht und im besten Sinne zu denken gibt), soll wohl die „Dekonstruktion“ des weisen Nathan zu einem machtbesessenen Kind bedeuten, sehr schön verkörpert von Johannes Sieger als Nathan.

Es folgt dann die Emazipation der Recha, sehr, sehr schön eingeleitet mit dem Bild der außer Kontrolle geratenden „Spieluhren-Tänzerin“ (wundervoll verkörpert von Birte Schnöink, die an diesem Abend überhaupt einen Einblick in ihre bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit gibt). Recha – die übrigens auch Nathans Haus in dessen Abwesenheit angezündet hatte – wird zur eigentlichen Hauptfigur dieser Inszenierung. Sie gleicht sich nun in ihrem Verhalten mehr und mehr Nathan an, während sich die beiden Männer, der Tempelritter und Nathan ihrerseits angleichen. So entsteht ein Spiel mit Identitäten, das bildlich mit Kostümwechseln bzw. Requisitenübernahme sehr schön umgesetzt ist. Das erste Erzählziel also, dass sich die Inszenierung gesetzt hatte, kann als geglückt gelten. Den Lessing'schen Nathan vom Religionsthema zu entbinden und in einen Kontext postmoderner Identitätsaushandlungen zu stellen, ist vom Ausgangstext her plausibel und schön umgesetzt.

Betrachten wir nun den zweiten Aspekt der Lesart des Nathan als „Emazipationsstück für alle Laienpredigerinnen“. In diesem Zusammenhang müssen wir wohl die Kindlichkeit Nathans und das Außer-Kontrolle-Geraten Rechas, die letztlich die Macht übernimmt, verstehen. Bei Lessing ist dies freilich nicht angelegt und wirkt darum auch irgendwie wie eine willkürliche Torsion des Originaltextes. Natürlich kann man alle Figuren in ihr Gegenteil verkehren, wenn einem der Sinn danach steht, eine gute Inszenierung sollte aber immer noch erkennen lassen woher im Originaltext die Idee genommen ist. Ist also das Ziel, dass sich Leonie Böhm hier gesetzt hat, verfehlt?

Auf dieser gerade genannten Ebene vielleicht. Zugleich aber ist die Verwandlung von Recha und Nathan aufs engste verwoben mit dem Identitätsthema – und bezieht von dorther ihren Sinn. Denn hier sind wirklich alle gleich, und in der Metamorphose kann tatsächlich alles aus allem werden: Identitäten sind (wie Religionen) letztlich arbiträr und gleichwertig. So ist die Umkehrung der Identitäten von Nathan und Recha eingebettet in das allgemeinere Leitthema der Inszenierung. Und das ist sehr klug konstruiert.

Einige kleine Wermutstropfen gibt es gleichwohl doch. Die musikalische Gestaltung des Stückes wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Durchaus unterhaltsam, aber dabei ohne erkennbaren tieferen Sinn, wirkt sie eher wie die Zwischenspiele auf der Bühne des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die vor allem zum Ziel hatte, das Publikum bei Laune zu halten.

Ebenfalls schade ist, dass Nathan die Weise so viel auf Konzeption und so wenig auf Sprache setzt. Die Schönheit und Ambiguität des Originaltextes geht vollends verloren – wird aber auch nicht durch Sprachliches kompensiert. So bleibt Nathan die Weise eine konzeptionelles Werk, das zwar überzeugend gestaltet ist, aber die Ambiguität und den Witz (im ursprünglichen Wortsinne), den dramatische Werke haben können, vermissen lässt – so wird das komplex gebaute Stück doch etwas einseitig, ist es einmal entschlüsselt.
Ann-Kristin Iwersen - 11. September 2016
ID 9540
NATHAN DIE WEISE (Thalia in der Gaußstraße|Garage, 09.09.2016)
Regie: Leonie Böhm
Bühne: Sören Gerhardt
Kostüme: Lena Schön und Helen Stein
Dramaturgie: Matthias Günther
Live-Musik: Johannes Rieder
Mit: Birte Schnöink und Steffen Siegmund
Premiere am Thalia Theater Hamburg: 9. 9. 2016
Weitere Termine: 11., 14. 9. / 3., 9., 27. 10. / 8. 11. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de


Post an Dr. Ann-Kristin Iwersen



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