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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Transdisziplinäres Theaterlabyrinth



Bewertung:    



Für die einen der letzte Schrei, für die anderen bereits wieder kalter Kaffee - zumindest besteht zurzeit kein Mangel an Angeboten für interaktives Theater in Berlin. Bei Performance-Gruppen wie Signa (Club Inferno), machina eX (Toxik), Prinzip Gonzo (die am gleichen Tag im Ballhaus Ost eine Einführung in ihr neues Mitmach-Spiel Monypolo gaben) oder auch bei Rimini Protokoll (Situation Rooms) wird die sogenannte Vierte Wand immer wieder durchbrochen. Das internationale Berliner Performance-Kollektiv NO FOURTH WALL hat sich dann auch gleich selbst so benannt. Ihr neues Theaterprojekt IPSAGON im Saal des Ballhaus Ost ist eine interdisziplinäre Rauminstallation, die Architektur, bildende und darstellende Künste sowie wissenschaftliche und philosophische Thesen miteinander verknüpft. Der Besucher durchläuft ein Labyrinth von acht hexagonal angelegten Zellen. Dabei gibt es die Möglichkeit mit den Performern vor Ort aktiv zu kollaborieren. Man kann aber auch wahlweise den ca. einstündigen Durchlauf weitestgehend passiv gestalten oder sogar das Geschehen ganz von außen beobachten. Ziel ist es, die Kollaborationsfähigkeit des einzelnen Besuchers zu testen.

Also eine Art Versuchsanordnung, die sich über optische, akustische und sogar geschmackliche Reize wie Video, Musik, Schauspiel, Tanz und Performance sowie Genuss und philosophische Gespräche vermittelt. Das architektonische Konzept der Rauminstallation beruht auf dem Hexagon, einer sechseckigen, geometrischen Figur, die seit jeher eine bedeutende Rolle in der Natur, Kunst und Architektur spielt, und der auch eine gewisse magische Symbolik anhaftet. Die MacherInnen von IPSAGON kombinieren den räumlichen Aufbau recht lose mit einem theatralen Bezug zum norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen, was dem Projekt letztlich auch den Namen gibt. Man trifft auf seinem Weg durch das Labyrinth immer wieder auf Figuren aus Ibsens Werk, mal sehr konkret; mal eher im übertragenen Sinne. Der Konzeptentwicklerin Adela Bravo Sauras geht es hier vor allem um die Frauen in Ibsens Dramen wie Nora oder Hedda Gabler, aber auch um die männlichen Heldenfiguren Peer Gynt oder Baumeister Solness. Der Einzelne auf seinem Weg zu einem sozialen Ganzen, könnte man es grob überschreiben. Was natürlich ein Scheitern nicht ausschließt.

Eine weitere Säule des zellenartigen Raumgeflechts ist die wissenschaftliche These des Neurobiologen und Psychotherapeuten Joachim Bauer, der Mensch sei aus Gründen sozialer Anerkennung, immer bestrebt zu kooperieren. Da ist sicher etwas Wahres dran, die Auffassungen Bauers sind aber auch nicht unumstritten. Dem gegenüber steht das Ellenbogenprinzip des Kapitalismus. Seine Konfliktfähigkeit kann man gleich zu Beginn testen, wenn man von einer Performerin im Trollkostüm auf einer Wippe je nach deren Stand beschimpft oder gelobt wird. Am Ende des Parcours steht dann der Abschied Noras aus ihrem Ehekäfig. Eine Performance, die einen wieder ins reale Leben katapultiert, nur dass sie erschöpft zurückbleibt. Dann doch lieber Kollaboration zum Lustgewinn. Dafür bietet ein Abendessen Gelegenheit, bei dem man mit einer netten Performerin im veganen Nudelteigkostüm Smalltalk betreiben und Geschmacksrichtungen ausprobieren kann. Die wahlweise von ihrem und dem eigenen Körper dargebotenen Leckereien lassen einen fast vergessen, dass man auch hier einem traditionellen Rollenbild gegenübersteht.

Natürlich gibt es in diesem Labyrinth noch weitere Fallen. So sieht man sich zwei ineinander verknoteten Performer ausgesetzt, die einen in ihr merkwürdiges Zwiegespräch über Wahrnehmungen und Erinnerungen hineinziehen wollen. Der Performer im philosophischen Kabinett, wenn man so will, verwickelt einen dann in einen diskursiven Konflikt zwischen Darwins Evolutionslehre und der Theorie von Joachim Bauer. Ein Individuum, wenn man denn überhaupt eines ist, besteht aus einer Vielzahl von miteinander kooperierenden Zellen. Gene können sich nach Bauer auf Dauer durch bestimmte Lebenssituationen verändern. Sind also Bausteine kollektiver Anpassung, was selbstverständlich nicht immer nur Vorteile mit sich bringen muss. Kollaborieren Individuen nur zum eigenen oder dem Vorteil der Gemeinschaft? Das stumme, willkürlich scheinende Klötzchengeschiebe im Nebenraum bekommt da gleich etwas geheimnisvoll Bedrohliches.

Spielerisch gesehen ist das Ganze allerdings nicht immer nur eine künstlerische Offenbarung. Ohne das Wissen über den theoretischen Überbau der Veranstaltung kann man auch locker weit unter der recht hoch gehängten Metaebene durchspazieren. Es fehlt vielleicht an so etwas wie einer vagen Spielanleitung, einer Idee, wie sich das Einzelne schließlich zu einem Ganzen fügt. Die Anreize in den einzelnen Räumen scheinen doch recht willkürlich gestreut, was sicher auch der Wirkungsweise eines Labyrinths geschuldet ist. Der ungeübte Durchbrecher der vierten Wand wird sich hier aber nicht in jedem Fall immer mitgenommen fühlen. Es liegt tatsächlich an einem selbst, wie weit man bereit ist, sich den Reizen zu öffnen, um letztendlich Aufnahme in diesen Gemeinschaftskörper zu finden, der einen allerdings am Ende auch als unverdaulich wieder ausspucken kann. Vielleicht entwickelt sich mit der Dauer ja noch eine gewisse Eigendynamik. Die konzeptionelle Idee des IPSAGONs ist es zumindest wert, weiterentwickelt zu werden.



Ipsagon im Ballhaus Ost | Foto (C) nofourthwall

Stefan Bock - 17. Oktober 2015
ID 8930
IPSAGON (Ballhaus Ost, 15.10.2015)
Texte (englisch, deutsch): Adela Bravo Sauras und Henrike Kohpeiß
Dramaturgie: Henrike Kohpeiß, Julia Novacek und Thomas Zimmermann
Konzept und Strategie: Adela Bravo Sauras
Video: Julia Novacek
Grafik: Hirn Faust Auge
Kostüme: Frank Salewski und Alisa M. Hecke
Licht: Anja Stachelscheid und Adela Bravo Sauras
Installation: Adela Bravo Sauras (Idee & Konstruktions-Design), Thomas Zimmermann (Idee & Konstruktions-Design) und Juan Alfonso Ruano Canales (Idee)
Konstruktion: Adela Bravo Sauras, Julia Novacek und Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung GmbH
Innendesign: John Facenfield und Alisa M. Hecke
Sound: Thorolf Thuestad, Antonia Alessia und Virginia Beeskow
PerformerInnen: Susana Sarhan AbdulMajid, Antonia Alessia, Virginia Beeskow, Adela Bravo Sauras, Glenn Crossley, Jiwoon Ha, Dorothee Krüger, Julia Novacek und Christian Wagner
Philosophie: Katharina Czuckowitz, Cristian Dragnea und Slaven Waelti
Premiere war am 15. Oktober 2015
Weitere Termine: 17./18. 10. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.ballhausost.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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