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Premierenkritik

Im

gentrifizierten

Berlin



Die Irre von Chaillot im Theaterdiscounter Berlin - Foto (C) MARIAKRON

Bewertung:    



Carl von Ossietzky bescheinigte in den 1920er Jahren dem französischen Diplomaten und Schriftsteller Jean Giraudoux (1882-1944) in einer Romanrezension „ein Meister der feinsten epigrammatischen Spitze“ zu sein, „was ihn nicht hindert, gelegentlich statt des Floretts den Stock zu führen“. Das trifft im Groben wohl auch auf seine 1943 geschriebene Komödie La Folle de Chaillot (dt.: Die Irre von Chaillot) zu - eine bissige Satire auf das Pariser Spekulantentum im von den Deutschen besetzten Paris.

Der eigentlich recht germanophile Giraudoux hatte sich schon in der Zeit von 1924-28 als Pressechef im französischen Außenministerium und von 1939-40 gar als französischer Propagandaminister seine Meriten in puncto politischer Agitation verdient. Während des Krieges schwang er dann für das Radio sein scharfes, satirisches Florett gegen die deutschen Besatzer. Er ist diesbezüglich allerdings auch nicht ganz unumstritten. Eine gute Ausgangsposition also für das künstlerische Gemeinschaftsprojekt MARIAKRON um Regisseur Cornelius Schwalm, Schauspielerin Verena Unbehaun sowie Dramaturgin und Autorin Sophie Nikolitsch, ihrerseits satirisch, agitatorisch mit dem Stoff zu experimentieren.

Banker, Makler, Grundstückspekulanten gibt es ja auch im schönen Berlin in Hülle und Fülle, nur mit den Erdölvorkommen hapert es hier ein wenig. In Giraudoux' Stück wird nämlich einer Gesellschaft von Geschäftsleuten - bestehend aus einem Präsidenten, Baron, Börsenmakler und Prospektor (Fachmann für die Suche nach Rohstoffvorkommen) - die Gier nach dem schwarzen Gold zum Verhängnis. In einem Pariser Café haben sie zuvor die Sprengung alter Gebäude beschlossen, um an den erhofften Bodenschatz zu kommen. Eine Gruppe Einheimischer um die alte, kauzige Dame Aurélie, genannt die Irre von Chaillot, vereitelt den Plan der Spekulanten und lockt nach einem Schauprozess in Abwesenheit der Delinquenten die gesamte Blase mit einem Trick in die unterirdische, sich labyrinthisch verzweigende Pariser Kloake. Der Geschmack des mit einem in Öl getränkten Wattebauschs versetzten Leitungswassers soll suggerieren, dass sich im Keller eines Hauses die gesuchte Quelle befände. Die frohe Botschaft verbreitet sich in Windeseile unter den Pariser Gierschlünden aller Couleur, was zum vollkommenen Erfolg für die Verteidiger des Viertels beiträgt.

Sicher, ein schönes Märchen, aber: „Ist es nicht recht und billig, die Schlechten zu richten?“, wie es im Stück heißt. Eine Frage, an der sich sicher nicht sofort die Geister scheiden werden. Eher an der, wie sich das heute anstellen ließe, wenn es denn tatsächlich dazu käme. Darauf hat dann aber das Kollektiv MARIACRON auch keine adäquate Antwort gefunden. Man hält sich im Großen und Ganzen an den vorgegebenen Plot. Soviel zur politischen Wirksamkeit von Kunst.

Als treffende Gesellschaftsbetrachtung inklusive kritischer Innenschau der Berliner Kunstszene taugt die phantastisch anmutende Komödie aber allemal, denkt sich das Team und lässt die betuchten Gauner als städtisches Konglomerat aus Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft auftreten. Das gesättigte Geld-Bürgertum, emporgekommen durch verschiedenartige Betrügereien, schaut von oben herab auf die Berliner Bohème aus lauter Borderlinern, einem Kunstprekariat, das sich mit Kellnerdiensten, Tellerwaschen oder Vorgaukeln falscher Kunstziele über Wasser hält.

Berlin soll schöner werden, hat sich die neu gegründete Gesellschaft (Silvina Buchbauer, Mareile Metzner, Anne Retzlaff, Matthias Rheinheimer und Verena Unbehaun) im Dienste des Schönen und der Kaufkraft auf die Fahnen geschrieben. Ihr neuer Klassizismus orientiert sich dabei an den Linien von Townhäusern. Kunst im öffentlichen Raum ist den Snobs wie Analficken ohne Gleitmittel. Das Unkraut aus dem Wildwuchs diverser Projekte und Stückentwicklungen gehört ausgemerzt. Als nicht ganz freiwilliger Vollstrecker der Ziele des schürfwütigen Konsortiums findet sich der Kleinganove Pierre (Musiker Robert Rating, Mitglied bei The Incredible Herrengedeck) wieder. Hier ein gut gepamperter Staatskünstler, der die Obrigkeit mit kleinen Kunststückchen bei Laune hält und auch sonst erpressbar ist. Die herrschenden Förderstrukturen haben den Künstler gezähmt. Rilkes Panther im Käfig aus tausend Stäben, und hinter tausend Stäben keine Welt. Pierre soll nun also die erste Bombe an die alten Strukturen legen. Was dem gescheiterten Konzeptkünstler einiges Unwohlsein bereitet, und ihn schließlich an den Rand des Selbstmords treibt.

Das entbehrt nicht einer gewissen Selbstironie, wenn auch im Weiteren nicht viel mehr als eine schmale Sozial-Klamotte mit Musik herausspringt. Die Schauspieler wechseln schnell Kleider wie Rollen und verkörpern nun die Pariser/Berliner Alteingesessenen, die es bestens verstehen, den abtrünnigen Lebensmüden alsbald wieder in die eigenen Reihen einzugliedern. Man gibt sich kämpferisch, reckt die Faust und stimmt die Solidarity-Hymne der britischen Anarcho-Oi-Punk-Band Angelic Upstarts an. Das Zeitalter der Sklaven und Peiniger ist vorbei.

Würde man sich jetzt vielleicht etwas mehr an freier Bearbeitung wünschen, hängt die Inszenierung trotz einiger Kürzungen doch wieder an Giraudoux' Textvorlage vom schon beschrieben Plan, die Übeltäter verschwinden zu lassen und einer vorangehenden abstrusen Gerichtsshow. Die von Aurelie (Silvina Buchbauer) angeführte Gemeinschaft der angeblich Irren, Lumpensammler, Tellerwäscher und Kloakenreiniger setzt ihr Vorhaben minutiös in die Tat um. „Wenn man vernichtet, muss man im Großen vernichten.“ Die Welt soll aus den Händen der Macker befreit werden. Die kleine Liebesstory zwischen der Geschirrwäscherin Irma (Anne Retzlaff) und Pierre geht dabei völlig in akrobatischen Körperübungen unter.

Nachdem die sich nun auch namentlich outende Neuberliner Szene des Prenzlauer Bergs in den rauchenden Schlünden der Kloake verschwunden ist, werden Tür und Fenster aufgerissen und frische Luft in den verqualmten kleinen Saal des Theaterdiscounter gelassen. Das Vorlesen der Namen der plötzlich Verstorbenen wie Steuersünder Uli Hoeneß, die Samwer-Brüder, als bekannte Aasgeier des globalen Internethandels, und andere Promis aus Wirtschaft, Politik und Boulevard durch die Dramaturgin des Abends ist dann aber weder Florett noch Stock, sondern mehr der gute alte Holzhammer, mit dem man bekanntlich alles platt kriegt. The Power of Love richtet die am Boden liegenden dann schon wieder auf. Aber wenn schon die 80er, dann doch passender zum Stück mit den Fun boy Three im Tunnel of Love. Get down on your knees!



Die Irre von Chaillot im Theaterdiscounter Berlin - Foto (C) MARIAKRON

Stefan Bock - 25. Januar 2015
ID 8385
DIE IRRE VON CHAILLOT (Theaterdiscounter, 22.01.2015)
Text / Regie: Cornelius Schwalm
Dramaturgie / Text: Sophie Nikolitsch
Bühne: Hovi-M
Kostüm: Andrea Göttert
Produktion: Theaterdiscounter & Mariakron
Mit: Silvina Buchbauer, Mareile Metzner, Robert Rating, Anne Retzlaff , Matthias Rheinheimer und Verena Unbehaun
Premiere war am 22. Januar 2015
Weitere Termine: 28. - 30. 1. / 6. - 8. 3. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.theaterdiscounter.de/stuecke/die-irre-von-chaillot


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