Coup Fatal
von Alain Platel / Serge Kakudji / Fabrizio Cassol
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Coup Fatal auf Kampnagel Hamburg | (C) Chris van der Burght
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Bewertung:
Kann es gelingen, auf diese Art der schrecklichen Welt eines Bürgerkrieges zu entfliehen?
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Die Sapeurs tanzen ihre Lebenslust... | (C) Chris van der Burght
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Lange wollte sich gar kein Gefühl einstellen; es schien endlos - diese Peepshow für ein weißes Publikum. Man wähnte sich auf einem afrikanischen Dorfplatz mit Trommeln und allerlei Perkussion-Instrumenten und wurde überrannt von schwarzen Tänzern, blaue Plastikstühle um sich werfend.
Wo war man hingeraten zwischen Glitzervorhang aus leeren Patronenhülsen und typisch afrikanischer Musik, förmlich umringt von tanzenden Verrückten. War das Absicht? Ironie? Provokation? Und war das auch authentisch? Jetzt muss man auch noch mit klatschen! Sollte man zur afrikanischen Identitätsfindung beitragen oder sich selbst schämen als „Weißer Mann“ die Kolonialisierung betrieben zu haben? Unendliche Variationen desselben ließen das Ganze mit aufgesetzt gespielter Lebensbejahung fragwürdig erscheinen. Ein Folkloreabend der besonderen Art.
Nach dem zweiten Stück dachte man schon, das bleibt jetzt so.
Doch Musiker und Tänzer blieben ungeniert dran am Publikum. 13 Musiker aus Kinshasa spielten kongolesische Tanzmusik, auch hörte man ein Repertoire verschiedener Barock-Komponisten, Arien von Händel und Gluck wurden mit traditioneller und populärer Kongolesischer Musik vermischt. Das Ganze wurde noch gesteigert von einem unglaublich virtuosen Countertenor (Serge Kakudji) afrikanischer Abstammung. Für deutsche Ohren recht ungewöhnlich. Der Zuschauer sollte halt auch mal was aushalten - und das brauchte Zeit.
Dann irgendwann, als man schon nicht mehr damit gerechnet hatte, wurde es wirklich lebendig und leuchtend bunt.
Die soziale Bewegung der Sapeurs, La Sape, begegnete dem zerrütteten Land auf ihre Weise. Als klassische Dandy's verkleidet mit selbst gefertigten Designer-Anzügen tanzten sie Überheblichkeit gepaart mit Selbstbewusstsein und dem Schalk im Nacken. Hierzulande wusste man nichts darüber, dass die gespielte Lebensfreude eine Überlebensstrategie war, denn man tanzte und sang auf einem Minenfeld.
„Ohhh’s“ gab’s dann bei dem coolen Typ mit der Doppelhals-Gitarre (Rodriguez Vangama; irgendwann erschien er im Kapitänsanzug mit Pelzmantel). So kurios müssten ihnen die Weißen erschienen sein, als diese mit ihrer überheblichen Art und ihren eleganten Anzügen den schwarzen Kontinent betraten. Die Tänzer trieben es auf die Spitze, tanzten nun in wildesten Zuckungen ihren frivolen Widerstand, zeigten weiße Zähne und weiße Augen. Dann forderten sie auch noch unschuldige blonde Mädels aus der ersten Reihe zum Tanz auf!
Es wurde richtig unangenehm.
Waren wir jetzt Zuschauer, Touristen oder Ausbeuter? Das Ganze war Belustigung und wurde zusehends unerträglich. Mein Nachbar wollte ständig gehen, stöhnte und faltete seine Jacke.
Doch drängte sich rudimentärer Sex, pralles Leben und ein unbändiger Überlebenswille auf. Die Musiker wurden unaufhaltsam besser und besser, die Rhythmen machten den Kopf frei, es wurde extrem funky, Prince wurde zitiert. Wo waren eigentlich die Frauen? Machte nichts, die Akustikguitarre (Costa Pinto) im Hintergrund spielte melodisch genug, dann in der Mitte der Gitarrist mit Doppelhals - er fungierte als Dirigent, die Musik wurde gnadenlos wild und der Tenor sang sich im glänzenden Satinkleid in ungeahnte Höhen hinauf, als wäre er eine Schwuchtel.
Für meinen Stuhlnachbarn spitzte sich das Ganze jetzt zu, je höher die Arien wurden und je doller die Körperlichkeit und der Sex zuschlugen.
„When you are young, giftet and black, this world is us.“ - in Anlehnung an Nina Simone.
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Die Welt muss verrückt geworden sein so etwas zu kombinieren, eine schwarzafrikanische Oper mit Arien von Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck (Orfeo ed Euridice, den Verlust der Liebsten beklagend). Schmerz und Schönheit werden zu getanzten Klageliedern, angereichert mit Samba und spanischen Anklängen; grandiose Musik verbindet sich mit unbändigem Tanz und Klamauk. Ja, die Welt muss verrückt geworden sein!
Es wäre etwas für Schlingensief gewesen (Theatermensch und Künstler, der ein Operndorf in Burkina Faso aufbauen wollte) - denn hier wurde etwas davon Realität.
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Großartige Musiker spielen traditionelle kongolesische Musik, z.B. hier mit der Likembe | (C) Chris van der Burght
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Crescendo ist, wenn alle singen, auch das Publikum.
Es gab verdiente Standing Ovations.
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Liane Kampeter - 3. Juni 2015 ID 8684
COUP FATAL (Kampnagel Hamburg, 29.05.2015)
Konzept und Idee: Serge Kakudji und Paul Kerstens
Künstlerische Leitung: Alain Platel
Musikalische Leitung: Fabrizio Cassol, Rodriguez Vangama
Dirigentin: Rodriguez Vangama
Bühne: Freddy Tsimba
Licht: Carlo Bourguignon
Sound: Max Stuurman
Kostüme: Dorine Demuynck
Mit: Serge Kakudji (Countertenor) und Rodriguez Vangama (Elektroguitarre), Costa Pinto (Akustikguitarre), Angou Ingutu, Bouton Kalanda (Likembe), Erick Ngoya (Likembe), Silva Makengo (Likembe), Tister Ikomo (Xylophon), Deb’s Bukaka (Balaphon), Cédrick Buya, Jean-Marie Matoko (Perkussion), 36 Seke (Perkussion) sowie Russell Tshiebua und Bule Mpanya (Hintergrundgesang)
Uraufführung im Burgtheater Wien war am 10. Juni 2014
Eine Koproduktion mit den Wiener Festwochen, dem Théâtre National de Chaillot, Paris, dem Holland Festival, Amsterdam, dem Festival d’Avignon, dem Theater im Pfalzbau, Ludwigshafen, dem TornoDanza, Turin und der Opéra de Lille
Weitere Infos siehe auch: http://www.kampnagel.de
Post an Liane Kampeter
http://www.liane-kampeter.de
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