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nachDRUCK # 6

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Neue Stücke


Schutthaufen

der Erinnerung



Látszatélet / Imitation of Life | (Foto (C) Marcell Rév

Bewertung:    



Vor gut zwei Jahren bereits gastierte der ungarische Film-Regisseur und Theatermacher Kornél Mundruczó mit seiner Produktion Dementia, or the Day of My Great Happiness beim ungarischen Theater-Festival “Leaving is not an option?” im Hebbel am Ufer. Nun ist er mit einer weiteren Koproduktion mit den Wiener Festwochen zurück in Berlin. Und auch in Látszatélet / Imitation of Life (zu Deutsch: Scheinleben) geht es um soziale Verwerfungen in der ungarischen Gesellschaft.

Statt eine alte abgewrackte Nervenheilanstalt zu schließen, versucht nun eine Investmentfirma mit Hilfe eines Inkassobüros mit Namen Liquid GmbH eine ältere Frau mit Mietschulden aus ihrer Wohnung zu werfen. Lörinc Ruszó (Lili Monori) ist Angehörige der Roma-Minderheit und setzt sich zunächst tapfer gegen die Ausfragungen und Belehrungen des Mitarbeiters vom Inkassobüro (Roland Rába) zur Wehr. Schließlich erzählt sie ihm aber verzweifelt die Geschichte ihres Lebens, das aus ständiger staatlicher Bevormundung, gesellschaftlicher und institutioneller Diskriminierung und anderen daraus resultierenden Schicksalsschlägen besteht.

Die Zuschauer sehen das Gesicht der Frau in Nahaufnahme auf einer Videoleinwand, die, wenn sie gefallen ist, eine kleine schäbige Wohnung in einem engen Bühnenkasten freigibt. Hier hat Frau Ruszó die letzten Jahre ihres Lebens verbracht und wartet nur noch auf die Rückkehr ihres Sohnes, der sie verlassen hat, da er sich für seine Herkunft schämt und seine Haut und die Haare bleichte, um nicht als Rom zu gelten. Die Androhung einer weiteren Umsiedlung lässt sie zusammenbrechen.

Der Inkassomann bekommt es mit der Angst und versucht die Rettung zu rufen. Da sich aber die Adresse in einer Roma-Siedlung befindet, reagiert die Dame am Telefon recht abweisend und mit vorurteilsbehafteten Fragen. Etwa ob die Frau getrunken habe oder von ihrem Mann geschlagen wurde. Da hier andere Prioritäten gelten, könne man erst in 74 Minuten kommen, sonst würde das ungarische Volk untergehen. Was letztendlich untergeht, ist wiedermal die Menschlichkeit in einem System, in dem sich jeder selbst der nächste und für Minderheiten erst recht kein Platz mehr ist.

Das symbolisiert Mundruczó mit einem plötzlichen Gewitter und Regen, was sich wie ein Schleier über die Szene legt. Langsam beginnt sich die kleine Behausung um die eigene Achse zu drehen, und die Einrichtungsgegenstände fallen lautstark und effektvoll durcheinander. Ein Leben hebt sich aus den Angeln, und Berge von Erinnerungsschutt entladen sich aus Bettkasten und Schrankschubladen.

Im zweiten Teil des 95minütigen Abends bezieht die junge Frau Veronika (Annamária Láng) die durcheinandergewirbelte Wohnung und verschweigt dem Vermieter ihren Sohn Jónás (Dáriusz Kozma). Denn: „Kindersegen ist das große Druckmittel der Minderheiten“, wie der Mann sagt. Parallel montierte und seitlich angeordnete Videoszenen zeigen den verloren Sohn der mittlerweile im Krankenhaus verstorbenen Frau Ruszó in seinem neuen Leben, in dem Szilveszter (Zsombor Jéger) aber bald das alte mit der Mutter wieder einholt. Aus seinem Scheinleben verdrängt erscheint er wie ein untoter Geist in der dunklen Wohnung und begegnet dort dem ebenfalls blonden Jónás, der von seiner Mutter über Nacht alleingelassen wurde. Hier schließt sich ein magischer Kreis, Vergangenheit und unausweichlich scheinende Zukunft stehen sich gegenüber wie zwei nicht zu trennende Brüder.

*

Zum Abspann erfährt das Publikum auch noch den Hintergrund der Geschichte. Grundlage ist ein 2005 aktenkundig gewordener Fall der Budapester Polizei, bei dem ein junger Rom in einem Bus mit einem Samuraischwert angegriffen wurde. Das zog viel Medienrummel und Demonstrationen gegen Rassismus nach sich, da der Täter einer nationalistischen, rechtsextremen Gruppierung angehörte. Wie sich später herausstellte, war er aber ebenso ein Rom wie sein Opfer. Im Thema der Verleugnung der eigenen Herkunft lehnt sich Mundruczó auch entfernt an den Film Imitation of Life von Douglas Sirk an. Wie eine ungerechte, rassistische Gesellschaft so ein Verhalten befördert und was daraus folgen kann, zeigt der Regisseur bei aller szenischen Sparsamkeit in doch sehr eindrucksvollen Bildern.




Látszatélet / Imitation of Life | (Foto (C) Marcell Rév

Stefan Bock - 29. Oktober 2016
ID 9645
LÁTSZATÉLET / IMITATION OF LIFE (HAU2, 28.10.2016)
von Kornél Mundruczó / Proton Theatre

Regie: Kornél Mundruczó
Bühne: Márton Ágh
Kostüme: Márton Ágh, Melinda Domán
Licht Design: András Éltető
Text: Kata Wéber
Dramaturgie: Soma Boronkay
Musik: Asher Goldschmidt
Produktion: Dóra Büki
Produktion Management: Zsófia Csató
Produktion Assistenz: Ágota Kiss
Technische Leitung: András Éltető
Lichttechnik: Zoltán Rigó
Soundtechnik: Zsigmond Farkas Szilágyi
Bühnenmeister: Benedikt Schröter
Requisiten: Tamás Fekete
Dresser: Melinda Domán
Mit: Lili Monori, Roland Rába, Annamária Láng, Zsombor Jéger und Dáriusz Kozma
Uraufführung bei den Wiener Festwochen war am 21. Mai 2016
Berliner Premiere: 28. 10. 2016
Weiterer Termine: 30. 10. 2016
Eine Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer, Wiener Festwochen, Theater Oberhausen, La rose des vents – Scène nationale Lille Métropole Villeneuve d’Ascq (Maillon), Théâtre de Strasbourg / Scène européenne, Trafó Kortárs Művészetek Háza (Budapest), HELLERAU - Europäisches Zentrum der Künste (Dresden), Wiesbaden Biennale


Weitere Infos siehe auch: http://www.hebbel-am-ufer.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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