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In Memoriam

GERT VOSS (1941-2014)



Gert Voss, 2011 | Bildquelle: Wikipedia

Während die deutschen Fans im nationalen Taumel noch König Fußball und seinen Vier-Sterne-Prinzen huldigten, gab es für die Verehrer der großen Theaterkunst am Montagmorgen ein ungutes Erwachen. Am Vortag war ein anderer sternumflorter König für immer von der Bühne des Lebens abgetreten. Der deutsche Theaterstar Gert Voss (vom Großkritiker der F.A.Z. Gerhard Stadelmaier bereits zu dessem 70. Geburtstag im Oktober 2011 zum „König der deutschen Schauspieler“ geadelt) starb am 13. Juli überraschend nach kurzer schwerer Krankheit.

Vom Magazin Cicero 2012 nach seinen fiktiven letzten 24 Stunden befragt, gestand Voss, dass es ihm fast unmöglich erscheine, sich das vorzustellen. Für ihn sei das Leben immer dann am schönsten, wenn man die größte Freiheit und Unbegrenztheit hat. Durch Grenzen fühle er sich beengt. Er glaube auch nicht die Fähigkeit zu haben, gleichmütig zu werden und loszulassen zu können.

Den Tod empfand Gert Voss schon früh als vollkommen überflüssig, ja sogar als beleidigend. Und so spielte er auch Hofmannsthals Jedermann von 1995 bis 1999 in Salzburg ohne abschließendes Gebet. Reumütig abdanken kam für ihn nicht in Frage.

Gert Voss, der Theaterkönig, tot? Das kann nur ein großes Missverständnis sein.

Die britische Times kürte Gert Voss 1995 auf der Höhe seines Erfolges zum besten Schauspieler Europas. Und der Preise sind da viele im Laufe dieses reichen Schauspielerlebens zusammengekommen. Der 1941 in Shanghai Geborene fand schon früh als Kind beim Sehen von Hollywoodfilmen Gefallen am Schauspielberuf. Nach einem abgebrochenen Anglistik- und Germanistikstudium nahm Voss ab Mitte der 1960er Jahren privaten Schauspielunterricht. Es folgte die Ochsentour durch die Provinz mit Engagements in Konstanz und Braunschweig, bis er in den 1970er Jahren zum Ensemble des Staatstheaters Stuttgart unter dem neuen und umstrittenen Intendanten Claus Peymann stieß. Der Beginn einer langen, fruchtbaren Zusammenarbeit.

Und Voss rettete Peymann nicht nur einmal künstlerisch wie auch politisch die Karriere. Er war ein listiger Puck in Shakespeares Sommernachtstraum, Karl Moor in Schillers Räubern, spielte Büchners Woyzeck und Molières Tartuffe. Anfang der 80er Jahre folgten in Bochum u.a. der Saladin in Lessings Nathan der Weise und schließlich die Titelrolle in Kleists Hermannsschlacht in der Regie von Claus Peymann, der Peter Zadek in Bochum als Intendant beerbt hatte. Voss wurde jetzt erstmals zum Schauspieler des Jahres gewählt und wechselte 1985 mit Peymann ans Burgtheater Wien.

Hier bekam er die nächsten Ehren durch den österreichischen Dramatiker Thomas Bernhard, der ihn mit den beiden Schauspielerinnen Ilse Ritter und Kirsten Dene in seinem Stück Ritter, Dene, Voss über die Philosophenfamilie Wittgenstein verewigte. Die Brandkrapfenszene ist legendär. Nicht erst hier zeigte sich das große Talent zur vollkommenen Verwandlung des Gert Voss, und es begann eine neue Karriere als großer Bernhard-Darsteller und Minetti-Erbe. Er brillierte außerdem als Richard III., was den endgültigen Durchbruch für ihn und den neuen Burgdirektor Peymann beim skeptischen Wiener Publikum bedeutete. Er schlug es fortan ein ums andere Mal in seinen Bann.

Neben Claus Peymann spielte Gert Voss nun Hauptrollen bei so bedeutenden Regisseuren wie Peter Zadek, Peter Stein, George Tabori, Luc Bondy und Andrea Breth. Als Shakespeares Othello und Mr. Jay in George Taboris Goldberg-Variationen, inszeniert von Tabori selbst, wurde Voss Anfang der 1990er Jahre zum Berliner THEATERTREFFEN eingeladen. V.a. die gute Arbeitsbeziehung zu Peter Zadek veranlasste Voss sogar von 1994 bis 1996 ans Berliner Ensemble zu wechseln. Neben Antonius und Cleopatra mit Eva Matthes und einem Ausflug mit Luc Bondy an Andrea Breths Schaubühne als erfolgsloser Illusionist sprang dabei aber nicht viel heraus, und nach dem Scheitern der Kollektivintendanz mit Heiner Müller am BE verließen Zadek und Voss die deutsche Hauptstadt wieder in Richtung Wien.

Dort spielte er weiter bei Claus Peyman, führte selbst Regie bei Becketts Das Letzte Band und war beim THEATERTREFFEN 1998 mit Endspiel in der Inszenierung von Georg Tabori auch mal wieder in Berlin zu Gast. Einem erneuten Engagement bei Claus Peymann, der 1999 angetreten war, das erfolglose BE aus der Krise zu retten, widerstand Voss aber. Seine wichtigsten Ankerpunkte blieben Peter Zadek und Luc Bondy, der die Wiener Festwochen als Intendant übernommen hatte. Das Dreigestirn lotete nun am Wiener Akademietheater recht erfolgreich die menschliche Psyche in Stücken von Tschechow, Ibsen und Strindberg aus. Als Schriftsteller Trigorin in Tschechows Die Möwe (Regie: Luc Bondy) und als Rosmer in Ibsens Rosmersholm (Regie: Peter Zadek) bescherte Gert Voss 2001 der Wiener Burg beim THEATERTREFFEN noch mal höchste Aufmerksamkeit. Ein denkwürdiges Jahr. Neben dem Burgtheater, das viermal vertreten war, stand das BE mit Claus Peymann und seinem Richard II. zum letzten Mal auf der Einladungsliste.

Es bricht die Zeit der Thalheimers, Stemanns und Puchers an. Thomas Ostermeier leitete bereits seit 1999 die Berliner Schaubühne, Frank Castorf eroberte die Wiener Festwochen mit seinen Dostojewski-Adaptionen und René Pollesch zog in den Berliner Prater in der Kastanienallee ein. Das Theater Peymanns, Zadeks und Bondys galt plötzlich als überholt und museal. Gert Voss focht das nicht an. Er verlegte sich nun weiterhin erfolgreich auf die großen Altersrollen. Er war Big Daddy in Tennessee Williams Die Katze auf dem heißen Blechdach (Regie: Andrea Breth), Hauptmann Edgar in August Strindbergs Totentanz (Regie: Peter Zadek), Schillers Wallenstein (Regie: Thomas Langhoff) und natürlich bei den Wiener Festwochen 2007 ein keineswegs altersmilder, grandios irrer König Lear (Regie: Luc Bondy).

Als einer der jüngeren Garde von Regisseuren wagte als Einziger Thomas Ostermeier, mittlerweile selbst ein Regie-Klassiker seiner Generation, den Ausnahmeschauspieler zu besetzen. 2004 überstand Voss tapfer dessen etwas missglückte Inszenierung von Ibsens Baumeister Solness am Wiener Akademietheater. Hier dominierte einer die jungen Kollegen nach Belieben. Voss hatte es nie nötig, wie ein hibbelig aufgescheuchter Marc Hosemann an der Berliner Volksbühne als Castorf-Alter-Ego den nachstrebenden Talenten die Tür zuzuhalten. Ostermeier holte den 70jährigen 2011 als Herzog von Wien in Shakespeares Maß für Maß noch einmal an die Berliner Schaubühne. Und Voss hielt hier ganz abgeklärt dem jungen Schaubühnenstar Lars Eidinger (als Angelo) in leicht ironischer Art einen philosophisch bedeutungsschwangeren Vortrag in Sachen Lebenskunde am halben Schwein.

Shakespeare, für Voss der Mount Everest unter den Autoren, bot für ihn immer Material zum Spielen und Erfinden: „Shakespeare oder wer auch immer es war, der diese Stücke geschrieben hat, hat jedes Mal, wie Kolumbus, einen Kontinent entdeckt. Und für einen Schauspieler sind seine Figuren immer neu zu entdeckende Kontinente. … Der Shakespeare hat keine Ideologie, nein. Dazu ist er zu widersprüchlich.“ gab Voss zum 450. Geburtstag des großen englischen Dramatikers im April diesen Jahres dem Wiener Stadtmagazin Falter zu Protokoll. Und es sah tatsächlich so aus, als nähme der Darsteller unzähliger Shakespeare-Rollen diese Kontinente jedes Mal fast wie im Handstreich, ganz der imaginäre, wandelbare König dieser immer wieder neu zu erschaffenden Theaterwelten.

Auf die Ära Matthias Hartmanns als Direktor an der Wiener Burg muss man hier nicht weiter eingehen. Diese ist mittlerweile selbst Geschichte und zieht bereits ganz andere als künstlerische Kreise. Das Burgtheaterehrenmitglied Gert Voss war in die Findungskommission für die neue Burgtheaterdirektion berufen. Auch Thomas Ostermeier ist ja wie der Kammerschauspieler ein ganz großer Shakespeareverehrer und ebenfalls Nestroypreisträger. Beste Voraussetzungen für das Amt des neuen Burgtheaterdirektors? 2013 gab Gert Voss noch einmal bei den Wiener Festwochen am Akademietheater eine Glanzrolle als melancholischer, sittengestrenger Hausherr Orgon, den seine Familie unbedingt von der Niederträchtigkeit des Schmarotzers Tartuffe überzeugen will. Im Starensemble der Wiener Burg war er dabei einziger Lichtblick in Luc Bondys Molière-Inszenierung, auf den sich wie immer die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums konzentrierte.

Bereits 2011 gab es zu Thomas Bernhards 80. Geburtstag auch die längst fällige Wiedervereinigung von Gert Voss und Claus Peymann am Berliner Ensemble. In Einfach Kompliziert setzte sich Voss noch einmal die Pappkrone des Theaterkönigs auf und räsonierte ganz in Bernhard'scher Manier über die Unzulänglichkeiten der Welt und der Künstlerexistenz schlechthin. „Wir existieren nur / wenn wir sozusagen / der Mittelpunkt der Welt sind“ heißt es da. Ganz naturgemäß eine Sucht des Schauspielers, die sich außer bei Voss für Claus Peymann selbst noch viel intensiver behaupten ließe. Es ist aber eine durchaus positive Sucht, die sich im Gegenzug auf die Sehgewohnheit und somit das Suchtverhalten der Zuschauer wie auch der Kritiker (s. Stadelmaier) gleichermaßen übertragen kann. Und von alten Gewohnheiten ist bekanntlich sehr schlecht wieder loszukommen. Was Gert Voss betrifft, hätten wir dieser Angewohnheit gerne noch eine ganze Weile länger gefrönt.




Gert Voss (re.) in Maß für Maß an der Berliner Schaubühne - Foto (C) Arno Declair | Bildquelle: schaubuehne.de



Stefan Bock - 16. Juli 2014
ID 7961
Weitere Infos siehe auch: http://www.gert-voss.at


Post an Stefan Bock

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