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DT-Gastspiel

DIE JUNGFRAU VON ORLEANS

beim Hamburger Theaterfestival


Bewertung:    



In martialischer Pose steht sie da, die Jungfrau von Orleans, in ihrem weißen Kleid wirkt sie dennoch verletzlich, eigentlich wie nackt. In der rechten Hand hält sie dieses große lange Schwert ihres Gottes. Sie lässt es nicht mehr los, um sie herum ist Dunkelheit, ein Scheinwerfer fällt allein auf ihre Person, bewegungslos und überzeugend steht sie da.

Ich - der Zuschauer - bin von Anfang an wie elektrisiert, denn es brennt, vom Krieg geschwärzte Luft erfüllt den Raum. Gnadenlos werde ich in diese Atmosphäre gezogen: 100jähriger Krieg zwischen Frankreich und England, nur der Glaube an ein Wunder kann das Land noch retten, heißt es, denn das Ende naht.

Und immer naht das Ende, apokalyptische Ängste gibt es gestern wie heute. Dem Regisseur (Michael Thalheimer) ist eine moderne Fassung gelungen - die Bühne pures Schwarz, man muss sich an die Dunkelheit gewöhnen, doch menschliches Geschrei ist durchdringend und präsent.

Von der Seite kommt diese große Helligkeit, eine kleine Öffnung lässt das göttliche Licht hindurch.

Nur Johanna (Kathleen Morgeneyer) also steht im Licht, redet von sich in der dritten Person, im Namen Gottes ist sie Visionärin, eine Seherin, nichts kann sie mehr aufhalten, sie hat eine kompromisslose Entschlossenheit. Der Prophezeiung nach ist es eine reine Jungfrau, welche Frankreich rettet. Und nur bei einer Jungfrau kann man sicher gehen, dass sie nicht mit dem Teufel im Bunde ist. Die 17jährige Jeanne d’Arc hört eine göttliche Stimme, und sie beschließt für immer Jungfrau zu bleiben, das macht sie unbesiegbar. Besessen von dem Glauben erscheinen ihr der heilige Erzengel Michael und andere Engel, und sie ist überzeugt, diejenige zu sein: „Es wird keine Rettung geben außer durch mich.“ Ohne jede Selbstzweifel will sie ihr Land von England befreien. Damals war der Glaube sehr stark, und mit Vorliebe schickte Gott einfache Leute, die Welt zu retten.

„Die Welt zu retten.“ - Noch immer muss unsere Welt gerettet werden. Das Stück ist im Grunde eine Zumutung, die Schauspieler, sie schreien, sie geben alles, sind außer sich, das Publikum ist es auch, es wird gehustet, es ist unruhig, einige müssen gehen. Der Mensch will es einfach haben im Leben. Das Stück aber ist kompromisslos, die Darsteller entschlossen und gut besetzt, ich sehe Männer im Harnisch, es sind Männer, die noch Männer sind. Welch beeindruckende Stimmstärke! Sie tragen moderne schwarze Daunenjacken mit Gürtel und Kettenhauben, ein wenig bling bling muss sein. Und ästhetisch betrachtet werden die Kostüme mit all dem Blut nur noch besser. (Lob an Nele Balkhausen für diese zeitgemäßen Kostüme). Der spätere König trägt eine Menge Ringe, eine goldene Krone und einen zu großen Pelzmantel, und keines scheint ihm zu passen. Dann noch sein ausschweifender Lebensstil, und man fängt an, seine Intelligenz zu hinterfragen. Dieser missgeborene Sohn ist am Ende, der Reichtum ist verschwendet, er ist ein feiger Mann, der jammert, das junge Mädchen von Gottes Gnaden wird seine letzte Hoffnung auf die Krone Frankreichs.

Die Situation: Fällt Orleans, fällt auch das Königreich. Dem Anwärter für die Krone Frankreichs bleibt nichts anderes übrig, er gibt dem Wundermädchen die Macht, die da sagt: „Es wird keine Rettung geben außer durch mich.“ Des Landmanns niedrige Tochter nimmt die Macht, die ihr gegeben, und zieht in den Krieg. Sie bedeckt ihr Gesicht mit schwarzer Farbe. Bekennt sie sich unbewusst bereits für schuldig? Eine Frau in Männerkleidern, überdrüssig dieser Sonne, es kann sie nur einer besitzen und das ist Gott, keinem Mann sonst kann sie Gattin sein. Aus Mitleid und Gerechtigkeitsgefühl wird sie blutige Aktivistin, nicht züchtige Hausfrau und Mutter vieler Kinder, sondern sie stellt sich gegen die festgelegte Lebens- und Weltordnung, ihre eigene Rolle und Identität zu finden.

Mir wird als Zuschauer ganz kalt, das Getöse voller Inbrunst geht einem durch Mark und Bein. Dieser Krieg ist ein Geschäft mit der Hölle. In die Zeit des 15. Jahrhunderts zurück katapultiert, sehe ich Ritter, die alles geben, ihre Stimmen durchdringen die dunkle Nacht. Aber sie sind auch Männer unserer Zeit, lebendig fühlende Menschen des Augenblicks. Sie beraten sich, entscheiden das Schicksal. Kann man sich noch frei entscheiden? Nur Leid und Schicksal führen zu Gott. Herzklopfmusik begleitet jetzt das Geschehen auf dieser schlichten Bühne, alles ist irgendwie schwarz-weiß. Muss man sich entscheiden? Für Gut für Böse? Gibt es Gerechtigkeit?

Die Männer wollen Waffenstillstand, sie aber drängt weiter auf Eroberung, sie will Paris, sie will nicht verhandeln, nicht Diplomatie, sie will Krieg.

Johanna opfert sich einerseits, wie es schon Jesus getan hat, doch sie hält nicht die andere Backe hin, ihre Devise lautet „Töte deinen Feind, der dich töten will.“ Als sie auf Montgomery, einen Waliser, trifft, stößt sie ihm das Schwert in die Brust. Noch ist sie sich ihres größenwahnsinnigen Willens zur Macht nicht bewusst, und ihr stärkster Verbündeter ist stets ihr Chaos, welches sie verbreitet. Dann sucht sie den Nahkampf oder den hinterlistigen Überraschungsangriff. Bei Lionel aber, einem englischen Anführer, ist sie unfähig zu töten. Sie bekennt: „Ich fühle, dass mein Hass verschwindet.“ Sie lässt ihn am Leben, er zieht weiter gegen sie zu Felde. Ist Mitleid Frevel? Mitleid heißt, dass sie selbst des Leidens fähig ist. Ihre Augen öffnen sich: Ein bewusstes Erwachen lässt Töten nicht mehr zu.

Es folgt die Niederlage, von den eigenen Reihen wird sie nun in Frage gestellt. Der König hat seine Krone, doch das „Unternehmen Jungfrau“ ist gescheitert. Agnes, die Geliebte des Königs (Meike Droste) kann Johanna nicht erreichen. Isabeau, die Königin Mutter (Almut Zilcher) erscheint als beeindruckende Autorität, doch man fürchtet sie mehr als dass man ihren Worten folgen kann. Es sind indoktrinierte weibliche Worte: „Du kannst das Glück erschaffen, doch du teilst es nicht. Entwaffne dich, sei ein Weib und du wirst Liebe finden.“

Man sieht die Jungfrau von Orleans, den Retter (und dafür gibt es kein weiblich Wort), jetzt ist sie Ketzerin, sie wird für schuldig befunden und stirbt mit 19 Jahren auf dem Scheiterhaufen, keine Gnade wird ihr zuteil, sie verbrennt bei lebendigem Leibe. 1456 wird sie von der Kirche öffentlich rehabilitiert und fast 500 Jahre später für heilig gesprochen. Heute ist sie Nationalheldin, ist leiblich gewordene göttliche Mission - ein Mythos, weder Mann noch Frau.

Die Person Jeanne d’Arc aber bleibt bis zu ihrem Tode eine starke Frau, und doch gibt es für sie eine höhere Macht: „Durch eine zarte Jungfrau wird er sich / Verherrlichen, denn er ist der Allmächtige.“ Zu Lebzeiten bekannte sie: „Ich habe das Unsterbliche gesehen.“ Sie sagt: „Am helllichten Tag ist es Nacht. Jetzt rettet euch selbst. Ich aber werde ans Ziel gelangen, ohne dass ich suche. Es ist der Tag der Wahrheit.“ Es ist Gott, den sie durch den vermeintlichen Tod erkennt. Johanna meint aber ihren eigenen Gott, die Personifizierung von Männlich und Weiblich als ein Ganzes. Sie redet auch von der Gottesmutter. „Ich sterbe, wenn du fällst von ihren Händen!“

Sind die Abgründe der Gegenwart vielleicht in der Vergangenheit zu suchen? Inquisition assoziieren wir mit dem Mittelalter, doch werden auch heute Frauen auf dem Scheiterhaufen, bei Vergewaltigungen und durch verätzte Gesichter geopfert. Der Mensch stößt alles von sich, was sinnlich ist. Frauen werden Instrument für die männliche Macht, ausgesetzt dem Neid und der Eifersucht, wo sie doch ständig (wie Johanna) Unabhängigkeit und Stärke beweisen, frei nach dem Motto: „Alles oder nichts“. Doch für das Patriarchart gilt es, das Weibliche, das Schwache zu zerstören. Es sind aber die Frauen, welche Kinder unter Schmerzen gebären.

Wollen wir die Wahrheit? Das Licht? Sind wir bereit, dafür Leiden zu ertragen? Und sollen nur Frauen Schmerzen ertragen? Wie lange sind sie noch Besitz des Mannes, müssen sich opfern? Man sah Johannas Tod als siegreich, sie war nicht Opfer, sie war Märtyrer, weil sie in die Männerrolle geschlüpft war.

*

Es ist das umfangreichste Stück, dass ich je sah, ein Stück der Emanzipation. Für beide Geschlechter. Doch hervorstechend ist die Unterdrückung der Frau und die Heuchelei der Männerwelt in Politik und Kirche.

Diese tiefgreifende Inszenierung erzeugt so auch allgemeine Beklommenheit beim Publikum. Es geht um Selbstverantwortung, um bewusstes Denken und Handeln. Im Raum ist eine schwere Dichte, vielleicht auch Schuldbewusstsein entstanden. Eine Frau vor mir sitzt sehr lange lediglich auf der Stuhlkante, sie ist unsicher bei jedem Geraschel, schaut sich um, wirkt vorwurfsvoll. Was geht in ihr vor? Hat sie Kontakt zu ihrem weiblichen Selbst?

Es geht schließlich darum, seinen ganz eigenen Weg zu gehen, wer aber ist schon risikobereit? Man hofft auf das Wunder, welches einen herausführt aus der menschlichen Not, der Gier, dem Drang Kriege zu führen, zu zerstören.

*

Wir, die Zuschauer, sind uns nun selbst überlassen. Wir befinden uns in diesem kugelförmigen Raum der Dunkelheit, welcher Bühne sein soll und doch das ganze Schlachtfeld der Menschheit in seinem innersten Kern beschreibt. Es gibt kein Entrinnen, nur das heilige Licht, die kreisrunde Öffnung ganz oben am dunklen Himmel. Ist das der einzige Ausweg? Also „Gott“? Ist es nicht auch oft Ausrede, dass nicht eigener Wille und eigenes Verlangen im Spiel sind, sondern heiliger Auftrag erfüllt wird. Kriege werde auch heute so geführt.

Johanna bekennt: „Mein Volk wird siegen und ich werde sterben.“ Hat nicht Jesus am Kreuz gesagt: “Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Der Widerspruch von Mitleid und kriegerischem Akt wird offenbar, von Töten und Leben lassen. Sie - einst Göttin der Unbarmherzigkeit - erfährt nun Mitleid. Im Tod muss sie ihre eigene subjektive Göttlichkeit erkennen. Sie redet davon, dass im Tod ihr Sieg liegt.

„Bestimme dich aus dir selbst.“ (Friedrich Schiller, 1793)

*

Frankreich, mit ihm Paris, die Stadt der Liebe und die ganze Welt ist erst frei, wenn du fühlen und weinen kannst. Bist du bereit, dein Herz zu fühlen? - Die Musik, die sich bis jetzt im Hintergrund durchgezogen hat, hält immer noch den Herzschlag bereit.

Ich bin mir sicher, dass noch heute Jeanne d’Arc Projektionsfläche für alle möglichen Interessen ist. Sie bietet Widersprüche und ist doch auch ganz in ihrem Herzen. Sie handelt nach bestem Wissen und Gewissen. Und machen wir uns klar, sie ist ein ganz junger Mensch mit wenig Erfahrung. Umso mehr muss sie sich auf ihre Intuition verlassen, auf ihr inneres eigenes Selbst.

„Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe.“ (Zitat aus Schillers Wallenstein, 1799)

* * *

Ein wunderbares Heft begleitet dieses Stück, es enthält einen Rat: „Hab Glauben an dich selbst.“

Ein weiteres Heft empfiehlt den wieder gefundenen französischen Stummfilm von Carl Theodor Dreyers aus dem Jahr 1928 Passion der Jungfrau von Orleans.



DT-Gastspiel mit Die Jungfrau von Orleans beim Theaterfestival Hamburg - Foto (C) Arno Declair | Bildquelle: Kampnagel

Liane Kampeter - 2. November 2014
ID 8218
DIE JUNGFRAU VON ORLEANS (Kampnagel Hamburg, 30.10.2014)
Regie: Michael Thalheimer
Bühnenbild: Olaf Altmann
Kostüme: Nele Balkhausen
Musik: Bert Wrede
Dramaturgie:Sonja Anders
Mit: Kathleen Morgeneyer, Christoph Franken, Meike Droste, Andreas Döhler, Almut Zilcher, Peter Moltzen, Alexander Khuon u.a.
Premiere am DT Berlin war am 27. September 2013
Eine Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin mit den Salzburger Festspielen


Weitere Infos siehe auch: http://www.kampnagel.de


Post an Liane Kampeter

http://www.liane-kampeter.de




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