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Tanztheater

Das NDT 2 tanzte beim Festival der Villa Adriana in Rom



Foto (C) Rahi Rezvani | Fondazione musica per Roma

Bewertung:    



Es ist 20 Uhr, die Besucher sitzen auf den Ruinen (was man eigentlich gar nicht darf) und essen ein mitgebrachtes Tramezzino oder sitzen locker und gelöst, trotzdem ab und zu einen Blick gen Himmel werfend, zwischen den Ruinen an kleinen Tischen beim Spritz. Vor 20 Minuten hat ein blauer Himmel den Wolkenbruch abgelöst, der uns die 30 Minutenfahrt von Rom nach Tivoli erschwert hat und dafür verantwortlich ist, dass wir nun einen riesigen Regenschirm mit uns herumtragen. Der Abend ist gerettet, und bis zu Beginn der Vorstellung um 21 Uhr laut Programm (21.30 Uhr reell) werden auch die Sitze wieder trocken sein, und wir können unbeschwert dem dritten Tanz-Highlight – das auch das heimliche Highlight des Festivals der Villa Adriana ist – entgegensehen.

Nach Martha Graham am 25. 6. und Carolyn Carlson am 3. 7. gastierte am 10. und 11. Juli das Nederlands Dans Theater 2 (NDT 2) in der Großen Therme der Sommerresidenz von Kaiser Hadrian.

*

Vier unzusammenhängende und ganz unterschiedliche Choreografien hatte das niederländische Ensemble nach Rom mitgebracht und damit die unglaubliche Spannweite seines Repertoires unter Beweis gestellt. Die Bühnenbildutensilien reduzierten sich auf eine größere Anzahl von Table-dance-Lichtpfosten, einen roten Teppich, 16 weiße quadratische Podeste und einen kreativen Einsatz von Licht.

I new then war der Titel des ersten Stückes, das der Schwede Johan Inger choreografierte. Begleitet von Van Morrisons Country-Musik (Madame George, The way young lovers do, I’ll be your lover too und crazy love) waren die Tänzer auf der Suche nach ihrer Identität und ihrem Weg, der irgendwo in einer Bar im Wilden Westen begann. Prüde, gewagt und sich vortastend fanden sich Paare, um aus der vorherrschenden Langeweile auszubrechen ohne sich zu verraten. Manchmal wurde auch gesprochen und das, was sich hinter den Lichtpfosten abspielte, kritisiert. Die Tänzer trugen alle Straßenkleidung und konnten so keiner gewissen "Schicht" zugeordnet werden.

Kurzer Umbau bis zum Vier-Minuten-Stück Shutters Shut (2003), auf das wir schon sehr gespannt waren. Die Kunst- und Literaturikone Gertrude Stein hatte das surrealistisch-kubistische Gedicht If I told him: a completed portrait of Picasso 1923 geschrieben und damit die Poesie neu erfunden. Sol León und Paul Lightfoot hatten die Choreografie hierzu entworfen. Ein Pas de deux im Dominoanzug (ein Tänzer in weiß/schwarz, der andere in schwarz/weiß). Gertrude Steins persönlich vorgelesenes Gedicht begleitete die Bewegungen...

Und wer dem englischen Text nicht folgen konnte, hatte ihn von der Gestik der beiden fantastischen Solisten ablesen können. Mit elf Jahren ist das Stück fast schon ein Klassiker, der immer aktuell bleiben wird – so wie Gertrude Steins Gedicht.

Anschließend wurde ein quadratischer, ca. 50 Quadratmeter großer roter Teppich hereingerollt. Er ist das Requisit für Subject to change. Wieder eine Choreografie von Sol León und Paul Lightfoot (was für ein perfekter Name für einen Choreografen!). Zu Schuberts Der Tod und das Mädchen in der Orchesterversion von Gustav Mahler (1894) rollten vier schwarz gekleidete, geschlechterlose Personen vor einem fünften Tänzer den roten Teppich aus, sprangen drüber und ließen ihn liegen. Ein Mädchen, das ein weißes Toten-Spitzenhemd trug, tanzte sich über den Teppich, wurde mit ihm gedreht, der Mann kam dazu, sie tanzten gemeinsam, sie floh, sie kam wieder. Voller Emotionen und Eleganz diese Beiden - immer eingerahmt von den vier schwarzen Personen. Es war ein geniales Werk, und besser könnten Musik, Choreografie und Optik nicht zusammen arbeiten. 2003 hatte dieses Stück den Zwaan Award für die beste Produktion gewonnen.

Während der kurzen Pause konnten wir einem zweiten Spektakel folgen. Als Resultat des Fast-Vollmondes und der Beleuchtung rund um die Bühne beobachteten wir auf der Mauer hinter der offenen Bühne riesige gespensterhafte Schatten, die Gegenstände von links nach rechts oder zurück trugen. Später lernten wir, dass es Kakteen in unterschiedlichen Größen und Formen waren, die zum Einsatz kamen. Alexander Ekman hatte die Choreografie, das Bühnenbild und die Kostüme für Cacti entwickelt. Nun kamen die vorher erwähnten weißen ca. 2 Quadratmeter großen Podeste und alle 16 Tänzer zum Einsatz. Jeder Tänzer posierte unterschiedlich auf seinem Podest. Der erste Eindruck versetzte uns direkt in die Centrale Montemartini, ein Skulpturenmuseum in einem alten E-Werk in Rom. Cacti ist viel mehr als nur Tanz. Es ist auch Theater, Slapstick und Kino (die letzte Sequenz hatte mich an die fotografischen Bewegungsabläufe von Eadweard Muybridge erinnert).

Irgendwann wurden die Legobausteine zu einer Art Bauhaus- oder Stummfilm-Konstruktion zusammengestellt. Vor diesem Bau nun fing ein Pärchen an, die schwierigen Bewegungen und Posen für Cacti nochmals zu proben. Sie animierten sich gegenseitig und analysierten verbal Schwachstellen, machten sich aber auch ein wenig lustig über sich selber und das Stück. Ein geniales Zwischenspiel, bis dann Alle tanzend die Kakteen auf die Bühne brachten und sie somit in das Geschehen mit einbezogen. Ekman wollte uns wohl davon überzeugen, dass Tanz auf keinen Fall trocken und stachelig sein muss. 2010 wurde er für den Zwaan Award nominiert. Die Musik zu dieser Kreation war von Haydn, Beethoven und wieder Schubert. Mit ihrer hautfarbenen Oberkörperbekleidung wirkten sie auf den ersten Blick nackt und wie kleine flinke Aliens, befremdend und faszinierend-betörend. Vollkommen waren sie, unverwechselbar-anmutig und natürlich-perfekt. Immer wieder aufs Neue überrascht folgten wir ihren faltenden, rollenden, sprechenden und trommelnden Aktionen.
Ob die Tänzer absichtlich anonym blieben oder das Programmheft nur schlampig gemacht war, hatte ich nicht herausgefunden. Den Solisten wurde jedenfalls kein Name zugeordnet; nicht mal beim Pas de Deux von Shutters Shut. Das war auch nicht unbedingt erforderlich, weil sie alle genial waren und sicherlich eine große Tanzzukunft vor sich haben. (Zur Zeit gehören zum NDT2 David Ledger, Dévi Selly, Clara Villalba, Olivier Coeffard, Chuck Jones, Fernando Troya, Spencer Dickhaus, Clement Haenen, Imre van Opstal, Casia Vengoechea, Richel Wieles, Xanthe van Opstal, Violet Broersma, Daan van der Laar, Luke Cinque-White, Gregory Lau, Luna Mertens, Yukino Takaura und Katarina van den Wouwer.)

Standig ovations und nicht enden wollender rasender Applaus für diese einzigartigen und außergewöhnlichen Tänzer, die federleicht, elegant und mit spielerischer, stressfreier und hochkonzentrierter Perfektion über die Bühne huschten.




Cacti mit dem NDT 2 - Foto (C) Rahi Rezvani | Fondazione musica per Roma



Christa Blenk - 13. Juli 2014
ID 7958
Das Nederlands Dans Theater wurde schon 1959 gegründet, u.a. von Hans van Manen, der lange Jahre dessen Leiter war bis 1975 Jiri Kilián für 20 Jahre die Regie übernahm. Das NDT 2 entstand 1978 als Sprungbrett auf das Welt-Tanzparkett für besonders junge und begabte Tänzer und Hochschulabsolventen (die jüngsten sind 17 Jahre, die ältesten 22). John Lightfoot und Sol Léon haben 2001 die künstlerische Leitung des NDT 2 übernommen.

Das NDT 2 wird übrigens die Internationalen Tanzwochen in Neuss 2014/15 eröffnen. Zwei der hier beschriebenen Choreografien (I new then und Shutters Shut) stehen auf dem Programm.

c. b.


Weitere Infos siehe auch: http://www.auditorium.com/villaadriana/


Post an Christa Blenk

eborja.unblog.fr




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