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Premierenkritik

Zwei Stunden mit

Wiebke Puls

BEVOR ICH ES VERGESSE an den Münchner Kammerspielen


Bevor ich es vergesse mit Wiebke Puls - an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Armin Smailovic

Bewertung:    



Die Schauspielerin Wiebke Puls erwartet die hereinströmende Zuschauerschaft schon. Auf einem Hocker auf der Bühne sitzend, aufgestützt auf drei Beinen. Eines davon schnallt sie ab, verstaut es hinter einer Schranktür, das Licht wird heruntergefahren – und los geht es!

Zwei Stunden lang wühlt sich die Protagonistin Anne durch Erinnerungen. Die zweite Hauptrolle dabei: Eine Kommode mit Aufsatz. Hinter den Schranktüren, in den Schubladen und Fächern – ein ganzes Leben. Das Leben des verstorbenen Vaters von Anne. Die französische Autorin Anne Pauly hat mit ihrem Debutroman Bevor ich es vergesse (Originaltitel: Avant que j`oublie) gleich einen Hit hingelegt. Das vielfach ausgezeichnete Buch hat die Schauspielerin Wibke Puls stark berührt und zu einer eigenen Regiearbeit inspiriert. Am Urtext musste viel gekürzt werden, aber die Essenz ist klar. Wenn ein Elternteil stirbt, bleibt den Nachkommen nicht nur die Aufgabe, Beerdigung und Trauerfeier zu organisieren, sondern auch den Haushalt aufzulösen. Es geht dabei nicht nur um Aufräumen und Ausmisten, sondern auch um Wiederfinden und Erinnern.

Wenn Anne dabei Unterhosen und Taschentücher, angebrochene Senf- und Marmeladengläser, Keksdosen und den Wochenspeiseplan des Krankenhauses herauszieht, dann kämpft und hadert sie mit ihrem Vater, einem jähzornigen, der Mutter über gewalttätigen Mann. Im gleichen Atemzug muss sie aber auch lachen, über ihren Vater, der mit seinem Witz die ganze Krankenstation unterhalten hat. Und sie lernt ihn als zärtlichen Menschen kennen, den seine Jugendliebe in berührenden Worten beschreibt und der seine Tochter liebt, auch wenn ihm sein eigener Charakter immer wieder dazwischenkommt.

Wiebke Puls hat sich mit diesem Stück selbst ein Geschenk gemacht. Ihre Bühnenpräsenz, die sie schon in so vielen Rollen bewiesen hat, kann sie auch in ihrer eigenen Regiearbeit voll ausspielen. Sie kommt vom Schimpfen ins Weinen, ins Lachen und beschreibt die Eigenarten ihres Vaters mit trockenem Humor, der auch im Publikum für Heiterkeit sorgt. Herrlich die Szene, als ihr Vater sie in seinen letzten Stunden immer wieder um Wasser bittet, das er eigentlich auf Grund seiner Krankheit in diesen Mengen nicht trinken dürfte. „Füll den Krug einfach nach, dann merkt die Schwester es nicht“, fordert er. Und immer wieder ist zu wenig oder zu viel im Krug. Anne muss es ausgleichen. Und das Publikum verfolgt staunend und lachend, wie Wibke Puls ein Glas nach dem anderen trinkt, um den Pegel hinzubekommen.

Auch den Pfarrer, mit dem sie die Trauerfeier besprechen muss, spielt sie gleich selbst, in wunderbarer Mimik und Haltung zeigt sie sein Gebrabbel, das wiederum für Heiterkeit sorgt.

Ganz zart und fein wird es, wenn die Erinnerung an die Mutter aufkommt. An der eleganten Bluse, die sie aus der Schublade nimmt, hängt noch das Etikett. Die Mutter wollte sie eigentlich zu einer Opernaufführung tragen, doch dazu ist es nie gekommen. Der Vater hatte kein Interesse. „Alles, was zum Träumen verleitet, hat sie aufgegeben“, ist die bittere Bilanz der Tochter über das Leben ihrer Mutter. In diesem Augenblick verkörpert Puls berührend eine Verletzlichkeit und Verletztheit.

Dazu kommen Stimmen und Geräusche aus dem Off. Kindergeschrei, Straßenlärm, Gesang und Dialoge. Das hätte es gar nicht zur Verdeutlichung gebraucht. Eine so wunderbare Schauspielerin wie Wiebke Puls kann sich ganz auf sich selbst und ihre Kunst verlassen. Denn für diese kann man nur Bewunderung haben.

Dass dieser Abend beim Publikum offensichtlich einen Nerv getroffen hat, hat sicher auch mit dem Thema zu tun. Irgendwann ist jeder dran, sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen. Das Stück ist auch eine Aufforderung noch manches zu Lebzeiten zu klären. Denn natürlich erfährt die Protagonistin nicht nur etwas über ihren Vater, sondern auch viel über ihre eigene Beziehung zu ihm und über sich selbst. Puls versteht den Stoff daher weniger als Trauerarbeit, denn als Herkunftsforschung: „Die Geschichte unserer Eltern ist schließlich auch unsere Geschichte. Vielleicht gehört es zu den wichtigsten Aufgaben eines erwachsenen Menschen, mit dieser Geschichte Frieden zu schließen.“

Ein intensiver Abend mit Wiebke Puls – ach und übrigens: Singen kann sie auch!



Bevor ich es vergesse mit Wiebke Puls - an den Münchner Kammerspielen
Foto (C) Armin Smailovic

Isabella Schmid - 9. Oktober 2025
ID 15506
BEVOR ICH ES VERGESSE (Schauspielhaus, 08.10.2025)
Nach dem Roman von Anne Pauly

Inszenierung, Fassung & Spiel: Wiebke Puls
Outer Eye: Verena Regensburger
Hörspielproduktion: Johann Jürgen Koch und Wiebke Puls
Audiodesign: Johann Jürgen Koch
Sounddesign: Jonathan Hanisch
Musik: Peter Pichler
Requisite: Stefan Leeb und Julia Molloy
Lichtdesign: Wolfgang Eibert
Dramaturgie: Matthias Günther
Premiere an den Münchner Kammerspielen: 8. Oktober 2025
Weitere Termine: 10., 25.10./ 06., 13., 22.11.2025// 29.01./ 13.02./ 17.03.2026


https://www.muenchner-kammerspiele.de


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