Ein jüdisches
Schicksal als
Erinnerungsrevue
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Wibke Puls in Play Auerbach! von Avishai Milstein - an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Julian Baumann
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Bewertung:
Eine Revue über das Leben eines Mannes, der zwei KZs überlebt hat und der in der Nachkriegszeit von einem bayerischen Gericht in den Tod getrieben wurde. Kann das funktionieren? Und wie!
Schon der erste Auftritt des Ensembles in Glitzerfädenkleidung, Käppchen mit Federbüschen und puppenartig geschminkten Gesichtern liefert einen Eindruck von der Nichtaufarbeitung des Dritten Reiches in der Nachkriegszeit. Alles nicht so schlimm, „Aber der Hitler!“
Das Stück spielt im Jahr 2045. Juden gibt es kaum mehr in Deutschland, und die wenigen leben bis zur Unsichtbarkeit hier. Aber dafür gibt es die Antisemitismusbeauftragte Beate, die jetzt jüdische Kultur retten will. Großartig verkörpert von Wibke Puls, mit einem Gutmenschenkieksen in der Stimme und sehr bestimmten Vorstellungen, wie ein Theaterstück gegen das Vergessen aussehen muss, das sie mit einem Laienensemble aufführen will.
Dann tritt Samuel Finzi auf, als Rafael Kuhn, der den Juden Philipp Auerbach spielen will. „Alle Juden, die in diesem Land irgendwie überleben wollen, sind mindestens so gute Schauspieler wie ich.“ Da muss man schon schlucken.
Philipp Auerbach ist heute fast vergessen, dabei war er in der Nachkriegszeit eine Berühmtheit. Er wurde als Sohn eines Kaufmanns in Hamburg geboren, emigrierte Mitte der 1930er Jahre nach Belgien und gründete dort erfolgreich eine chemische Fabrik. Nach dem deutschen Überfall auf Belgien wird er in ein französisches Internierungslager überstellt und kommt schließlich in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Auerbach überlebte die Lager, da er sich dort „nützlich“ machte. Er stellte Arzneimittel gegen Ruhr her, Seife und Schädlings- bekämpfungsmittel. Die Amerikaner befreiten ihn 1945 aus dem KZ Buchenwald. Ein Jahr später wurde er in Bayern zum Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte berufen. Fast 100.000 Menschen hat er geholfen - mit Nahrungsmitteln, Ausreiseanträgen und Entschädigungszahlungen.
Sehr anrührend, wie Edmund Telgenkämper einen dieser Verzweifelten spielt. Er will nur raus aus Deutschland und ist bereit dafür alles herzugeben, aber für den Ausreiseantrag fehlt ihm der nötige Entlassungsschein aus Theresienstadt. Er kann es nicht fassen: „Sie gehen davon aus, dass wir bei der Befreiung Papiere bekommen haben?“ Auerbach glaubt an einen Neuanfang und versucht ehemals Verfolgte vom Hierbleiben zu überzeugen und ihnen mit Entschädigungszahlungen zu helfen.
Damit machte er sich nicht nur Freunde. Er fordert vehement, dass nicht nur der Staat Zahlungen leisten sollte, sondern auch diejenigen, die von der Arisierung der jüdischen Besitztümer profitiert haben. Damit wurde der bayerische Justizminister Josef Müller sein ärgster Gegenspieler. Der war zwar von den Nazis zeitweise inhaftiert worden, hatte aber zuvor als Rechtsanwalt Unternehmen bei der Arisierung jüdischen Eigentums geholfen. Johanna Eiworth spielt ihn kalt und schlau: „Darf ich Sie fragen, auch rein wirtschaftlich betrachtet, wäre es nicht vernünftiger, Ihre rassisch, religiös und politisch Verfolgten zu ermuntern, Deutschland ein für alle Mal Ade zu sagen?“
Eine Haltung, die wohl viele Deutsche damals vertreten haben. Während Auerbach immer noch an ein gutes Leben von Juden in Deutschland glaubte, gab es Ignoranz oder offen dargestellte Feindseligkeit. Auerbach wurde schließlich unter anderem wegen Bestechung und Betrugs angeklagt. Auch wenn die meisten Anklagepunkte fallengelassen wurden, so ist er doch zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Von Richtern, die in der NS-Zeit Karriere gemacht haben und Parteimitglieder waren. In der Nacht nach der Urteilsverkündung nimmt er sich, zutiefst verletzt und enttäuscht, das Leben.
All das in eine Revue zu packen ist schon eine Herausforderung. Dazu die vielen übrigen auftretenden Personen, die eigentlich viel zu viele sind und sich doch perfekt einfügen. Therese Giehse (tolle Gesangsstimme: Annika Neugart), Moses (Andrè Benndorf), Emmy Göhring (Martin Weigl), Theodor Herzl, Otto Falckenberg, Hannah Arendt. Dazu leicht schräge Live-Musik von Rainer Süßmilch & Philipp Haagen.
Das Vergangene führt immer wieder in das Heute. Wenn einer der Schauspieler ruft „ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, immer wieder über den Holocaust zu reden. Einmal muss doch Schluss sein“, dann kommt das einem allzu bekannt vor und lässt einen gruseln. Avishai Milstein ist der Autor des Stücks. Seine Eltern sind selbst Holocaust-Überlebende und haben nach dem Krieg in einem bayerischen Lager für Displaced Persons gelebt. Seine Auftragsarbeit gehört zu der aktuellen Kammerspielreihe „Wohin jetzt? Jüdisches (Über)leben nach 1945“.
Natürlich beleuchtet Play Auerbach! nicht nur die Nachkriegszeit, sondern sehr deutlich auch die Jetztzeit. Anlass zum Nachdenken darüber, wie Juden heute in Deutschland leben (müssen). Das ist sicher einer der wichtigsten Gedanken, die dieses Stück (unter der Regie von Sandra Strunz) transportiert.
Wenn Wibke Puls am Anfang sagt, hier sei seit 15 Jahren nicht mehr Theater gespielt worden (wir befinden uns im Jahr 2045), dann ist man am Ende des Abends sehr zuversichtlich, was die Zukunft des Theaters betrifft.
Ein rundum gelungener, unterhaltsamer, tiefgründiger Theaterabend mit einem genial aufspielenden Ensemble.
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Play Auerbach! an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Julian Baumann
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Isabella Schmid - 5. Dezember 2025 ID 15590
PLAYAUERBACH! (Münchner Kammerspiele, 04.12.2025)
von Avishai Milstein
Regie: Sandra Strunz
Bühne: Annette Kurz
Kostüme: Sabine Kohlstedt
Musikalische Leitung und Komposition: Rainer Süßmilch und Philipp Haagen
Licht-Design: Stephan Mariani
Choreographie: Lisi Estaras
Dramaturgie: Viola Hasselberg, Anna Laner und Stella Leder
Mitarbeit Text: Marisa Wendt
Mit: André Benndorff, Johanna Eiworth, Samuel Finzi, Annika Neugart, Wiebke Puls, Edmund Telgenkämper und Martin Weigel sowie den (Live-)Musikern Rainer Süßmilch und Philipp Haagen
UA war am 4. Dezember 2025.
Weitere Termine: 09., 12., 19., 26.12.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.muenchner-kammerspiele.de
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