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Uraufführungen

21. September 2013 - NEUE BÜHNE Senftenberg

10. GLÜCKAUFFEST WIRKLICHKEIT

Theatermarathon




Authentisch und möglichst nah an der Wirklichkeit wollen die Theater ja immer irgendwie sein. Nur wie man das anfängt, da scheiden sich dann meist die Geister. Welche Themen sind wirklich aktuell und besitzen wo und für wen Relevanz? Und vor allem, woher die erforderlichen Stoffe nehmen, wenn nicht stehlen? An der NEUEN BÜHNE Bühne Senftenberg, tief in der südbrandenburgischen Provinz, hat man nun eine Möglichkeit gefunden, unsere deutsch-deutsche Realität, trotz mangelnder aktueller dramatischer Vorlage, auf erstaunlich frische Art und Weise auf die Bühne zu bringen.

* * *

Das 10. GlückAufFest in Senftenberg handelt das Thema Wirklichkeit an zehn aufeinanderfolgenden Wochenenden bis in den November anhand von vier ausgewählten Prosatexten aus den letzten drei Jahren (von Ingo Schulze, Christoph Hein, Rainald Goetz und Volker Braun) sowie einem abschließenden aerodynamischen Liederabend des vielseitigen Musikers Hans Eckardt Wenzel ab. Und das ist der andere Aufhänger. Man kann sich in der Provinz das Schmunzeln über die Probleme der Berlin-Brandenburgischen Pleiten-, Pech- und Pannenpolitik nicht verkneifen und baut die Neue Bühne kurzerhand zu einem voll funktionstüchtigen Flughafen mit Check-In, Abflughalle und kulinarischem Transitraum um.




Bernd Färber in Unsere schönen neuen Kleider an der Neuen Bühne Senftenberg - Foto (C) Steffen Rasche



Zum Einstieg in den rund neuneinhalb-stündigen Flug bringt Intendant Sewan Latchinian die Dresdner Rede von Schriftsteller Ingo Schulz aus dem Jahr 2012 als bissigen Kommentar zur aktuellen Lage unserer Demokratie auf die Bühne. Schulz hatte sie nach Andersens Märchen von "Des Kaisers neuen Kleidern" Unsere schönen neuen Kleider genannt. Ein kluger Text, der sich anhand auch einiger ermüdender Fakten und Zahlen mit den Auswirkungen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung seit der Wende, nicht nur in der „ehemaligen“ DDR (eines der vielen schönen Nachwendevokabularien), beschäftigt.

Pointe dieser allegorischen Überstülpung ist hier nicht nur der bekannte Ausruf des Jungen, sondern vor allem, dass es, ganz wie im Märchen, immer jemanden braucht, der sich traut, diese Erkenntnis auch lauthals zu unterstützen. Bernd Färber schlüpft, ganz Schauspieler, beim Reden in einem flotten theatralen Schminkprozess von der Rolle des nackten Kaisers hinüber in die der Kanzlerin (samt Raute), die mit ihrer Floskel von der marktkonformen Demokratie und bleiernen Alternativlosigkeit zur Weberin der allerschönsten unserer neuen demokratischen Kleider geworden ist.

*

Nach ersten unpopulären politischen Wahrheiten folgt mit der Dramatisierung von Christoph Heins Roman Weiskerns Nachlass der Blick auf die Verfasstheit der geisteswissenschaftlichen Elite Deutschlands, die sich mit halben Stellen immer am Rand der Privatinsolvenz durchs Leben schlägt, und der, ähnlich der Kunst, die Mittel immer weiter zusammengestrichen werden. Kulturwissenschaftler Stolzenburg (Alexander Wulke) ist ein solch unterbezahltes Exemplar. Er findet für seine liebhaberische Werkausgabe des unbekannten Mozartlibrettisten Weiskern keinen Verleger und sieht sich aus Geldmangel bald den unmoralischen Angeboten seiner Studenten ausgesetzt.

Hein lässt den notorischen Schürzenjäger und Konfuziussprücheklopfer Stolzenburg durch eine Achterbahn der Ereignisse und Gefühle gehen. Regisseur Latchinian macht daraus einen neunzigminütigen ironischen Discountflug in der Economy Class. Zum Teil auf Flugzeugsitzen spulen die Darsteller das Ganze wie einen rasanten Kunstfälscher-Krimi samt Beziehungsstress und Mozartbegleitung ab. Die bedauernden Worte von Stolzenburgs Steuerberater, der in einer Woche dessen Jahresgehalt an der Börse verdient, bringen es aber schließlich auf den Punkt. Stolzenburg wird auch weiterhin die Business Class versperrt bleiben. Auch wenn sich seine Albträume kurzzeitig in Luft auflösen, der finanzielle Absturz der/des Wissenschaft/lers ist vorprogrammiert. Hier wird kein Château Rothschild kredenzt. Im Abgang bleibt ein leichter Nachgeschmack von zu viel Tomatensaft.




Alexander Wulke und Inga Wolff in Weiskerns Nachlass an der Neuen Bühne Senftenberg - Foto (C) Steffen Rasche



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Mit oberflächlich angeeigneten kulturellen Phrasen wirft der Vorstandsvorsitzenden Johann Holtrop gern bei Interviews, Reden oder Geschäftsgesprächen um sich, bevor es dann nach erfolgreichem Abschluss in den Puff geht. Rainald Goetz gleichnamiger Roman liefert in sprachlich exquisiter Form ein entblößendes Sittenbild der Wirtschaftselite unseres Landes. Sewan Latchinian führt ihn als szenische Lesung unter Mitwirkung zweier Schauspielerinnen und Videoleinwände auf. Er selbst gibt den Aufstieg und Absturz dieses Manager-Dinosauriers als gymnastischen Slapstick mit Aktenkoffer und Wasserflasche. Die gekippten Videobilder verdeutlichen kongenial die psychische und emotionale Schieflage Holtrops sowie die verzweifelte Akrobatik seiner aus hohlen Gesten und Worten bestehenden Rettungsrhetorik. Zweifellos ein Höhepunkt des Abends, den reichlich Szenenapplaus begleitet.




Sewan Latchinian und Eva Kammigan in Johann Holtrop an der Neuen Bühne Senftenberg - Foto (C) Steffen Rasche



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Bis hierin bauen die Texte thematisch wunderbar und dramaturgisch geschickt aufeinander auf. Und zur fortgeschrittenen Stunde gibt es dann zum Thema Geschichte und Utopie auch noch eine Dramatisierung der Erzählung Die hellen Haufen von Volker Braun. Ein Abriss der Geschehnisse um die Abwicklung der Mitteldeutschen Kali-Betriebe im Jahre 1992 in fast poetischen Worten und religiösen Bildern. Der Marsch der Kalikumpel auf Berlin in den Fußstapfen der schwarzen Haufen Thomas Müntzers aus dem deutschen Bauernkrieg. Ein gespenstisch anmutendes Ensemble bewegt sich in Sewan Latchinians epischer, sehr eindrucksvoller Inszenierung um eine graue Abraumhalde, auf der sich die Arbeiter schließlich gegen die Übermacht des Staates verteidigen müssen. Gerechtigkeit, Solidarität und Gewaltfreiheit stehen im Raum sowie die Frage: Was wäre wenn?

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Zum Abschluss darf das ausnahmslos großartige Ensemble noch einmal zeigen, dass es auch musikalisch zu unterhalten weiß. In der Revue Auf dem Flughafen nachts um halb eins… singt eine "Hautevolee aus verlor’nen Lumpen" (HE Wenzel), die nicht in diese Welt passen will, in der Kneipe einer verlassenen Abflughalle voller Witz und Überlebensmut gegen die graue Wirklichkeit des deutschen Tiefsinns ("immer nur die Mitte") an. Eine bezaubernde Stunde der liebeswerten "Irren und Idioten". Nach dem Abflug in theatrale Wirklichkeiten folgt irgendwann auch wieder die Ankunft in der Realität. In Senftenberg kann man sich diesem, über den Theaterraum hinausgehendem Abenteuer aber getrost hingeben.



Bewertung:    




Stefan Bock - 25. September 2013
ID 7185
10. GLÜCKAUFFEST WIRKLICHKEIT (Neue Bühne Senftenberg, 21.09.2013)
Ingo Schulze, Unsere schönen neuen Kleider (UA)
Christoph Hein, Weiskerns Nachlass (UA)
Rainald Goetz, Johann Holtrop (Lesung)
Volker Braun, Die hellen Haufen (UA)
Hans-Eckardt Wenzel, Auf dem Flughafen nachts um halb eins... Ein aerodynamisches Liederprogramm (UA)
Premiere war am 14. September 2013
Weitere Termine: 28. 9. / 3., 5., 12., 17., 19., 26., 31. 10. / 1., 2. 11. 2013


Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-senftenberg.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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