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Satirischer Rückblick


30. August 2013 - Theaterruine St. Pauli, Dresden

PURCELLS TRAUM VON KÖNIG ARTUS

Schauspiel von Tankred Dorst


Emmeline erblickt die Welt - Foto (C) Sandro Zimmermann



Das kommt alles weg

Gewöhnlich ist das Theater seiner Zeit etwas voraus, sollte es zumindest sein. Aber manchmal gibt es Situationen, da wird ein Stück von der Realität rechts überholt. Aktuell ist das in Dresden zu bestaunen.

Dresden hat vieles zu bieten, kulturell und auch sonst. Seit neuestem sogar eine Brücke, die an eine geduckte Schildkröte erinnert.

Eine Hafen-City hat Dresden nicht. Noch nicht. Aber das kann sich bald ändern, die Pläne liegen auf dem Tisch, wer wissen will, wie es aussehen soll, kann sich in Hamburg, Frankfurt/M. oder Duisburg informieren. Und jetzt ist eben Dresden dran.

Als Tankred Dorst 2004 sein Stück über eine Opernhausruine schrieb, die einem Center weichen soll, hat er bestimmt nicht an Dresden gedacht.

Und als der Amateurtheaterverein Theaterruine St. Pauli e.V. im letzen Sommer dieses Stück auf die Bühne brachte, war an eine hiesige Hafencity noch nicht zu denken.

Gerade das macht es spannend.

*

Das fängt ja schon gut an. Eine Viertelstunde vor Beginn mischen sich seltsam gutgekleidete Menschen unter das Publikum, begutachten fachkundig die örtliche Bausubstanz und smalltalken über Entwicklungspotentiale. Pläne haben sie auch dabei, oder eher Skizzen. Ich muss einem von ihnen spontan recht geben, Kultur wird überbewertet, gerade hier in Dresden.

Mal wieder ein sogenanntes Bestandstück, es ist mein persönlicher Saisonauftakt, wie so häufig geriet ich eher zufällig hierher. Die St. Pauli-Ruine ist schön, nach der behutsamen und vermutlich existenzsichernden Sanierung fast wunderschön, da kann man nicht viel falsch machen.

Und Tankred Dorst, jener Herr mit dem sperrigen Namen, ist mir natürlich bekannt, wenn auch nicht gut und auch nicht persönlich. Eine Halboper nach Henry Purcell, ja, warum nicht? Die Woche war hart, gönnen wir uns was Schönes.

Ich hab das Theater fast weinend vor Freude verlassen.

* *

Ein Zappelphilipp, der Zauberlehrling Filidel (Tobias Schmidt mit großartigem Körperspiel) turnt über die Bühne, eine Opernhausruine soll das sein, klingt plausibel. Er umtanzt eine blinde, reiche Erbin, welche wiederum fasziniert ist von den Stimmen, die (nur) sie hört, fast schon in Trance. Wer singt da? Eine rätselzauberhafte Atmosphäre.

Einbruch der Investoren, die Realwelt hat uns wieder. So kenn' ich die, es passt jedes Detail, von den Kostümen (André Thiemig, der auch die stimmige Bühne verantwortet) bis zum Habitus. Und gesoffen wird auch ordentlich in diesen Kreisen, wenn auch dezent.

Es läuft das Bullshit-Bingo, „soziale Interaktionen“ wird es auch geben im Konsumtempel, klar. Kettcar hat da neulich ein schönes Lied drüber gemacht, schrilles buntes Hamburg; lies hier: „Wir hatten vier, fünf gute Jahre in zukünftiger bester Lage, der Malerfürst lässt leise wissen: Ab jetzt kommen die Touristen.

Der Selbstinszenierungsprofi und Arschitekt Franky Frank (Jens Döring beängstigend authentisch; möchte nicht wissen, was der von Beruf ist) bemerkt stolz, dass die Blinde ihm zurücklächelt und verliert dabei den Anschluss an die Gruppe. Fast kommt er unters Hackebeilchen des freakigen Jeff, der hier die Unterwelt bewacht, aber eben nur fast. So einfach ist das nicht zu lösen. Derweil hinterfragen die Investoren kritisch die Nachkommastellen im Businessplan.

Auftritt König Artus. Er hat nur mal kurz die Ruine besungen, da wurden die Poster blass… Meine Güte, ist der (Frank Weiland) gut. Und die anderen Operngeister auch. Es wird hell auf der Bühne, taghell, es ist so schön, ich bin den Tränen nah, nicht zum letzten Male an diesem Abend. Der Chor, die Solisten, die Akustik - ein Wahnsinn!

Auch wenn die Perücke des Gesangslehrers Sorbello (Rainer Leschhorn am und mit großem Bass) davonfliegt und die gudste Flower (Judith Franke) trotz aller Begeisterung nun leider gar nicht singen kann, es ist eine Offenbarung.

Doch der Rolli (Sören Haak als incorrect böser Rollstuhlfahrer einer der Stars des Abends) bringt die harte Realität zurück, das alles hier ist nur Zwischennutzung, die Investoren scharren mit den Hufen. Woher wusste der Dorst 2004, was heute in Dresden passiert? Das Stück zur Hafencity…

Die gouvernante Tante (Petra Höppner) von Emmeline, jener blinden Schönen aus dem Investorenpulk, versucht einzugreifen. Folgerichtig wird sie auch physisch erst zur Ziege, dann zur Kuh, ein Leichtes für den Zauberlehrling. Sage man nicht, das Gesocks könne sich nicht wehren. König Artus und Emmeline knüpfen fortan unbehelligt zarte Bande.

Eine von den Investschnepfen ist inzwischen völlig blau, aber Frankyfrank ist zur Stelle, er wird sich kümmern und dabei nicht zu kurz kommen.

Pause.



Man nannte ihn Arschloch - Foto (C) Sandro Zimmermann

Ein Meister aus Semtex - Foto (C) Sandro Zimmermann

Die Operngeister - Foto (C) Sandro Zimmermann



Ich probiere zum Erhalt der Zuschauensfähigkeit (diese blöde Angie, auch Angina genannt, wohnt mir immer noch bei) das neue Minzöl aus und verpasse mir eine Überdosis. Das kann ja heiter werden.

„Alles, was Du lernst, macht Dich unglücklich“, weiß Rolli. Ja, unbedingt. Die Handlung verlässt vorerst den Ponyhof. Doch wenn der FC St. Pauli der Weltpokalsiegerbesieger ist, dann ist das Theater St. Pauli Ruine der Weltkulturerbeverliererbesieger, mindestens. Man lernt was dazu in den nächsten Minuten.

Dann zieht aber doch wieder barocke Romantik ein: Emmeline (Ingrid Schütze spielt hinreißend, man nimmt ihr die Blinde genauso ab wie die spätere Entdeckung der Welt, ein absolutes Erlebnis) bekommt auf dringenden Wunsch eines einzelnen Königs ihr Augenlicht von Merlin verliehen. (Karl Michael Weber ist in seinem Handwerkerkittel ein Zauberer, der alles schon gesehen hat und dennoch nicht verzweifelt.)

Ich schwöre, es ist das Minzöl, was mich zum Heulen bringt in dieser Szene. Es läuft mir von der Stirn in die Augen, das verdammte Zeug. Sonst wäre ich völlig cool geblieben, oder… weiß nicht. Nee, glaub nicht.

Aber oweh, was ist das? Jetzt sieht sie alles. Alles außer Artus. Den sieht sie nicht mehr. Dumm gelaufen.

Dafür entdeckt sie unter freundlicher Mithilfe von Filidel die sichtbare Welt. Kann man einen Spiegel poetischer erklären? Nein, das kann man nicht.

Der ganze Saal wird bespielt, in der vollen Kubatur, um im Bilde zu bleiben. Das Einfache, was immer so leicht aussieht und von dem trotzdem keiner weiß wie es geht - hier gelingt es auf ganzer Linie.

Doch jetzt ist Schluss mit lustig: Es wird geräumt. Die Investoren sind wieder da und haben ein Rollkommando mitgebracht.

Selbstverständlich ist das alles völlig rechtens, und der Einsatz von einfacher körperlicher Polizeigewalt gegen die Störer wird auch nur ein ganz klein wenig übertrieben. Ich unterdrücke mühsam meinen Impuls aufzuspringen und dem nächstbesten Projektentwickler in die Fresse zu hauen.

Die Freaks haben keine Chance. Doch sie nutzen sie. König Artus erscheint und dreht das Spiel. Und aus schwarzen Schafen werden weiße Schwäne - vgl. Gundi, „Es kommt der Tag“.

Zu schön um wahr zu sein? Nein, der Pöbel hat tatsächlich gewonnen. Aber es sind Verluste zu beklagen, Emmeline erblindete wieder und wurde von den flüchtenden Heerscharen des Kapitals mitgenommen. Am Ende wird ihr Franky Frank die Welt zeigen, seine Welt, mit allen Schönheiten, die die Business-Class so hergibt. Ein Pyrrhussieg, König Artus ist untröstlich.

Während der böse Rolli seine Träume erzählt (nichts Schönes dabei), rüsten die Investoren zum Vernichtungsschlag. Artus hat nur sein verlorenes Fräulein Braut im Kopf, für Collani (als ideales Hass-Objekt ein aalglatter Björn Schröder), den Geschäftsführer der Real Estate Company, ist es ein Leichtes, die Besetzer mit einem Buffet einzulullen und dabei Liebesgrüße aus Semtex zu verteilen. Und während die Guten immer trunkener werden, tickt schon der Zeitzünder… Rrrrrummms. Kollateralschäden gibt es immer wieder.

Ein großartiger Abgesang mit der Musik von Henry Purcell, nochmal Gänsehaut. Langer, herzlicher Beifall, einige „Bravo“ waren zu hören, auch eines vom Verfasser.

Die musikalische Leitung von Yvonne Dominik, die zudem grandios singt, hat sich mit einer genialischen Regiearbeit von Jörg Berger zu einem Meisterwerk verbunden. Nicht mehr und nicht weniger.

* * *

Tja, da haben wir nun also in Dresden das Stück zur Debatte. Vielleicht sollte der Stadtrat mal in der Pauli-Ruine tagen, wenn es gerade läuft. Auf jeden Fall sei es allen ans Herz gelegt, die sich irgendwie mit dem Thema auseinandersetzen wollen.

„Sprengstoff! Politischer Sprengstoff!“ hätte Egon Olsen sicher gesagt.


Sandro Zimmermann - 1. September 2013
ID 7103
PURCELLS TRAUM VON KÖNIG ARTUS (Theaterruine St. Pauli e.V. Dresden, 30.08.2013)
Regie: Jörg Berger
Ausstattung: André Thiemig
Musikalische Beratung: Cornelia Drese, Yvonne Dominik, Mario Solazzo
Die Operngeister:
Purcell ... Yvonne Dominik
König Artus ... Frank Weiland
Merlin ... Karl Michael Weber
Zauberlehrling Filidel ... Katja Röder*, Tobias Schmidt
Die Shepherds / Chor ... Peter Anders, Christiane Doberenz*, Detlef Epperlein, Jonas Finger, Hannes Foest, Simone Foltran, Cornelia Goß*, Anna Kienel, Stephanie Kusche, Rainer Leschhorn, Nikolaus Nitzsche, Bert Rödel, Stephanie Teistler, Juliane Freund und Hans Martin Thiel
Die verückte Bess ... Yvonne Dominik
Die Investoren:
Collani ... Björn Schröder
Blinde Emmeline ... Ingrid Schütze
Emmelines Tante ... Petra Höppner
Franky Frank ... Jens Döring
Weitere Investoren ... Ute Wiesenhütter*, Kay Griensteidl, Ursula Recknagel und Hans Martin Thiel
Enthusiasten und Freaks:
Flower ... Judith Franke
Jeff mit der Narbe ... Jan Dietl*
Frosty ... Ronald Kieschnick
Billy ... Sören Haak
Sorbello, Gesangslehrer ... Rainer Leschhorn
Musik:
Klavier ... Matthias Krüger
Violine ... Monika Hochmuth-Alvarez
Klavier, Blockflöte, Keltische Harfe ... Simone Foltran
Solisten Gesang:
Sopran ... Christiane Doberenz* und Yvonne Dominik
Tenor ... Jonas Finger
Bariton ... Nikolaus Nitzsche, Bert Rödel und Frank Weiland
Bass ... Rainer Leschhorn
Textübersetzung Purcell: Klaus Miehling
Eingerichtet für Gesang: Yvonne Dominik
Technik: Philipp Cronacher
Mitarbeiter Ausstattung: Irmtraut Riethmüller und Gisela Ludwig
Premiere war am 27. Juli 2012
Eine Produktion des Theaterruine St. Pauli e.V.


Weitere Infos siehe auch: http://www.theaterruine.de


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