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1. Juni 2012, Bayerische Staatsoper

WOZZECK



WOZZECK an der Bayerischen Staatsoper - Foto (C) Wilfried Hösl


W wie wehtun - Wiederaufnahme von Bergs Wozzeck an der Bayerischen Staatsoper

Der erste Blick reicht dicke, und man packt die Ausstattung sofort in die Schublade „Klischees des Sprechtheaters“: Nicht schon wieder ein Guckkasten! War ja klar, irgendwie. Der tauchte sicher schon Anfang der Neunziger in Andreas Kriegenburgs Woyzeck-Regie an der Berliner Volksbühne auf. Ist das Urin, was dort von der Decke tropft? Wackeln die Wände? Dann fällt der Groschen: Das Konstrukt schwebt durch den Raum, wird gen Schnürboden gezogen oder wie ein Standbild nach hinten weggezoomt. Da taugen ein Ausschnitt in einem schwarzen, feuchten Nichts und der Platz im mittleren Parkettbereich doch glatt zur Bühnenillusion. Aber kann diese Installation als reiner Budenzauber abgetan werden? Harald B. Thor möchte Nähe erzeugen, die Charaktere wie unter einem Vergrößerungsglas erscheinen lassen. Wir nehmen das mit dem Guckkasten also schnellstens wieder zurück und zollen Respekt für eines der gelungensten Bühnenbilder der letzten Jahre.

Darin lässt Kriegenburg eine bleiche, verwesende, optisch an ihre innere Hässlichkeit angepasste Gesellschaft aufmarschieren, um Wozzeck als Gespenstersonate zu erzählen: Arme Leut, die förmlich von ihren Anzügen verschluckt werden (Kostüme: Andrea Schaad), die vom Menschen zum Monster mutiert sind, die das Glück im Geld suchen - und sich dabei doch nur nasse Füße holen. Was für eine konzentrierte, meisterlich geführte Arbeit! Also ein Abend ohne Risse? Nun ja, nicht ganz. Mit Knabe und Narr kann Kriegenburg nicht viel anfangen. Da sei ganz kurz auf Andrea Breth verwiesen, die zwischen diesen beiden Rollen eine subtile Verbindung herstellte. Auch die Puppen hätten gut und gerne in der Kiste bleiben können, aber was soll's: Ein wenig Widersprüchlichkeit steht diesem Werk deutlich besser zu Gesicht, als ein hermetisch abgeriegeltes Regiekonzept.

Kein Bestandteil der Inszenierung, aber ein kurioser Anblick allemal: Kent Nagano kommt in Gummistiefeln an die Rampe gerutscht, um seinen Applaus einzusacken, den wohlverdienten. War der blitzgescheite Analytiker, der Verfechter moderner Töne je mehr bei sich, als in dieser Oper? Nichts liegt Nagano ferner als einen Konsens zu finden, wo es keinen gibt, impressionistisch zu beschönigen - hallo, Herr Barenboim - wo es doch expressionistisch wehtun muss. Der Graben ist erstaunlich weit oben, was klanglich nicht ohne Folgen bleibt. Dieser Berg kriecht und schleicht, einem Raubtier gleich, bis der Augenblick gekommen ist, um anzugreifen, zuzupacken: Die Verwandlungsmusiken als Ausrufezeichen, als Echo des gerade Erlebten, als kleines Drama im großen. Das Bayerische Staatsorchester vollbringt hier nichts Geringeres als eine Sternstunde, eine einspielwürdige.

Georg Nigl ist ein Spieler im doppelten Sinne. Der Bariton kann Phrasen in klitzekleine Krümel kauen, aber auch große Töne spucken, sie zischen und murmeln, bellen und schreien. Und Nigl kann Theater machen! Mit einer an den Rand der Erschöpfung stoßenden Hingabe und in einer darstellerischen Intensität, dass man ihm sogar den Woyzeck - den von Büchner - zutrauen würde. Waltraud, die Säuselnde, Flötende, Gurrende, Gellende, Gleißende, Scharfstimmige, und Meier, das Bühnentier: Sie ist eine Marie, die uns um den Verstand bringt, immer noch. Wolfgang Schmidt, trompetentenoraler Hauptmann, und Clive Bayley, Doktor mit Trommelbass, gehen in ihren Partien regelrecht auf, sind ein erschreckend köstliches Duo der Demütigung. Dieser Abend gehört also keinem Einzigen, vielmehr stellt er das Können eines ganzen Ensembles unter Beweis. Aber was bleibt übrig? Zunächst einmal nur ein verkrampfter Leib. Als der Lappen fällt, wollen sich die Glieder nur peu à peu lockern. Was für ein komisches Gefühl, sich wieder in den eigenen Körper zurückschütteln zu müssen...




WOZZECK an der Bayerischen Staatsoper - Foto (C) Wilfried Hösl


Heiko Schon - 4. Juni 2012
ID 6009
WOZZECK (Bayerische Staatsoper, 01.6.2012)
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Bühne: Harald B. Thor
Kostüme: Andrea Schraad
Licht: Stefan Bolliger
Choreographie: Zenta Haerter
Dramaturgie: Miron Hakenbeck
Besetzung:
Wozzeck … Georg Nigl
Tambourmajor … Roman Sadnik
Andres … Kevin Conners
Hauptmann … Wolfgang Schmidt
Doktor … Clive Bayley
1. Handwerksbursche … Christoph Stephinger
2. Handwerksbursche … Francesco Petrozzi
Der Narr … Kenneth Roberson
Marie … Waltraud Meier
Margret … Heike Grötzinger
Mariens Knabe … Leopold Schinke
Bursche … Jochen Schäfer
Soldat … Jason A. Smith
Bayerisches Staatsorchester
Chor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper
Choreinstudierung: Sören Eckhoff
Premiere war am 10. November 2008
Weitere Vorstellungen: 6., 9. 6. / 22. 7. 2012


Weitere Infos siehe auch: http://www.bayerische.staatsoper.de


E-Mail an unseren Rezensenten Heiko Schon



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