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Schlegelsche Seifenblasen

Roland Bertschi inszenierte „Vom Nichtstun“ am Kölner Freien Werkstatt Theater


Hagen Range (kopflos) und Susanne Kubelka in VOM NICHTSTUN am Freien Werkstatt Theater Köln - Foto © MEYER ORIGINALS

„O Müßiggang, Müßiggang! du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb.“

In seinem 1799 erschienenen Roman Lucinde preist Friedrich Schlegel die „gottähnliche Kunst der Faulheit“, die der Mensch von heute kaum noch kennt. So zumindest geht die Mär vom daueraktiven, rundum beschäftigten Arbeitstier der Moderne. Denn nach offizieller Lesart sind wir alle ständig bei der Arbeit. Leisten neben der Erwerbs- auch Bürger-, Haus- und Trauerarbeit, arbeiten uns ab an der Erziehung und an allerlei Beziehungen, fronen fürs Kreative, reiben uns auf im Ehrenamt und klagen über Freizeitstress. Welche Chance hat da die Pause?

Doch die bekommt jetzt Schützenhilfe: Am Freien Werkstatt Theater in Köln hat man sich Gedanken gemacht zum Dolcefarniente, war tätig in Sachen Untätigkeit. Herausgekommen ist eine Bühnencollage von Roland Bertschi mit dem Titel Vom Nichtstun. Auf der Suche nach der Poesie von Müßiggang, Faulheit und dem Gegenteil von Arbeit. Keine schlechte Idee in Zeiten wie diesen, in denen das klassische Modell des Vollzeit-Angestellten immer weiter erodiert, in denen von Entlassung und Outsourcing, von Minijobs und Projekten, von Gründungszuschuss und Grundeinkommen, von Elternzeit und Sabbatical die Rede ist. Immer mehr Menschen leben jenseits des gängigen Vierzig-Stunden-Schemas, patchworken sich ihr Einkommen aus einer Vielzahl von Quellen zusammen, hinterfragen eine Lebensform, in der die Erwerbsarbeit alles und alles andere nichts sein soll – und experimentieren zwischendurch auch mit dem Müßiggang. Nur: wie geht der eigentlich? Wie macht man „nichts“ und was bringt es? Ist Nichtstun langweilig und Langeweile schön? Lauter Fragen, denen sich die Kölner Produktion nähert.

Auf der Bühne eine Ruhelandschaft, Symbole der Erholung, der Langsamkeit, des Genießens: Teppiche, Polster und Kissen, eine Hängematte und ein Kaffeetisch, eine Schildkröte und ein Sonnenschirm. Vier Akteure in Schlafanzügen thematisieren das Nichtstun - und tun dafür eine Menge. Sinnieren über den Fleiß der Bienen und über unproduktive Märchenfiguren wie Hans-Guck-in-die-Luft, lassen Menschen über Lautsprecher ihre liebsten Mußerituale beschreiben, intonieren alte Faulenzerlieder, aber auch moderne Songs wie „Sittin‘ in the Morning Sun“ oder „Sound of Silence“. Eines wird klar: Viele Lieder besingen die Muße als fernen Idealzustand, und trotzdem gilt der Mut zur Muße als subversiv. Wenn gepflegtes Faulsein also ein gängiger Traum ist – was ist daran so anrüchig? Ist die Unmöglichkeit, sich ein Leben ohne Arbeit vorzustellen, womöglich nur ein Mangel an Phantasie?

Roland Bertschis Akteure zeigen, wie widersprüchlich die Position des vermeintlichen Müßiggängers in unserer Gesellschaft ist: Hartz IV-Empfänger werden als faule Sozialschmarotzer verurteilt und nehmen diese Rolle auch demütig an, auf der anderen Seite gilt das unproduktive Leben der Reichen und Schönen als erstrebenswert – gibt es also ein moralisch korrektes Dösen nur auf hohem finanziellen Niveau? Der gespielte Text speist sich aus unterschiedlichsten Quellen, neben Schlegel kommen Gesellschaftskritiker wie Luigi Nono und Frédéric Beigbeider zu Wort, Pablo Neruda findet für die Faulheit wunderschöne Juwelenmetaphern, und auch Loriot ist mit seinem berühmten „Ich möchte einfach nur hier sitzen“ mit von der Partie. Die vier Akteure sitzen selten. Häufig liegen oder lagern sie, artikulieren ihre Worte mal bewusst albern, mal überexpressiv, verschwinden und tauchen an ungewohnter Stelle wieder auf, hauchen Seifenblasen in die Luft, den poetischen Inbegriff des zweckfrei Schönen und Ephemeren. Ein bisschen beliebig wirkt das alles schon, zwar unterhaltsam, aber ohne erkennbare Dramaturgie. Manche Frage bleibt auch offen: Wo zum Beispiel endet der glückselige Zustand der Muße? Darf das Nichtstun nicht zu lange dauern, um wahrhaft ein Genuss zu sein? Eine Szene aus Iwan Gontscharows Roman Oblomow, dessen Titelheld ein in völliger Passivität und Lethargie versunkener russischer Adliger ist, macht nachdenklich, doch eine Antworten wird nicht gegeben. Und mit der abschließenden Feststellung: „Ein Faulsein ist nicht keine Arbeit“ bleibt die die Inszenierung denn auch bei einer Negativdefinition stehen. Die „Glücklichen Arbeitslosen“, phantasievolle Berliner Passivisten aus der Zeit der Jahrtausendwende, waren da schon weiter: Dem Nicht-Haben von Geld und Status, dem Nicht-Sein von tätigen, aktiven und betriebsamen Leistungsträgern setzten sie die Muße als riesiges Areal von Spaß und Lust entgegen, dessen Außengrenzen erst noch erforscht werden müssen.

Insgesamt ein Abend, der ein spannendes Thema witzig und engagiert aufgreift, der jedoch eher zum Grübeln als zum Staunen Anlass gibt. Aber vielleicht wäre Staunen auch ohnehin zu viel Arbeit…


Susanne Kubelka und Bernd Rehse (in der Hängematte) spielen VOM NICHTSTUN am Freien Werkstatt Theater Köln - Foto © MEYER ORIGINALS


Holger Möhlmann - red. 14. April 2011
ID 5160
VOM NICHTSTUN (Freies Werkstatt Theater Köln)
Mit: Susanne Kubelka, Hagen Range, Bernd Rehse, Regina Welz
Textfassung, Inszenierung und Bühne: Roland Bertschi
Dramaturgie: Inken Kautter
Kostüme und Ausstattungsmitarbeit: Judith Kehrle
Musikalische Mitarbeit und Chorarrangement: Thomas Frerichs
Weitere Termine: 17., 20., 21., 29. 4. / 18. - 22. 5. / 19., 23. - 26. 6. 2011


Weitere Infos siehe auch: http://www.fwt-koeln.de





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