4. September 2013 - Ballhaus Ost
ZEIT IST EIN ARSCHLOCH
Ein Liederabend von Cora Frost und Gert Thumser
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Das Ballhaus Ost ist mein Lieblingsspielplatz im Prenzlauer Berg. Der Bau im Laufhausstil hat was von Kaschemme und Kommune – er pendelt zwischen porös und pompös. Zu den Einzelheiten denke ich die Freiheit der Nischen in labyrinthischen Einsichten. Kein Mensch erwartet zu viel Ernst an Ort und Stelle, das Ballhaus ist berühmt für seine anti-theatralischen Guerilla-Produktionen. Auch Gert Thumser kehrt in der ersten BO-Herbstpremiere 2013 wie ein Partisan aus den Theaterferien an die Vergnügungsfront zurück. Er ist ein ganz Geschmeidiger, sein Vortrag wie von Samt und Seide. Dabei sieht er aus wie ein überlebensgroßer Dirk Bach. Dirk könnte sich in Gert reinkarniert haben, um mehr Fläche zu bespielen. Willkommen im Zeitloch.
In einer Burka zeigt er sich zuerst, begleitet von Cora Frost und einem greisen Hipster ohne besondere Aufgaben. Cora Frost geht als Michelinmännchen über die Bühne, der maskuline Aspekt vertieft sich in verwirrender Zwiesprache. Ich deute das als Beispiel für Trance Gender, definitiv der letzte Schrei im Geschlechterdiskurs. Willkommen im Zeitloch. Angeblich liegt da das Geheimnis von Atlantis.
„Und auch die Sonne kocht nur mit Wasser“.
Cora Frost singt und Gert Thumser spielt an Tasten mit eigenen Kompositionen. Mitunter transportieren die Lieder Einwände gegen die Zeit, die Zeit kriegt im Programmtitel ihr Fett weg: „Zeit ist ein Arschloch!“
Nur Lebensmüde würden widersprechen. Cora und Gert schenken ihrem Publikum Zeit, wer wäre dafür nicht dankbar. Cora bringt die Seeräuber Jenny an den Mann, in erfundenem Skandinavisch. Sie zieht sich um, nun fällt sie förmlich aus einem Kleid von Marlene D. „Ich weiß nicht, ob Sie das wissen“, erklärt Cora, „wir sind alle aus Sternenstaub gemacht. Wenn man das weiß, dann macht man sich nicht mehr so viele Gedanken über das Staubsaugen.“
Auch Gert rüscht sich schick auf, nicht zuletzt als Maude, die von Herold mit Tee gegossen wird. „Blow my tea“. Man bespricht das Verhältnis von englischer Teezeremonie und den Beschleunigungsgesetzen. Man plaudert aus dem Nähkästchen: Daheim „pflanzen wir Teegebäck an, und Hanf, aber nur Bio“.
Harold & Maude im Zeitloch. Die beiden verwandeln sich in andere Paare der Weltgeschichte, sie inszenieren Schattenspiele wie in Stummfilmen. Vielleicht ergeben sich die Schattenspiele lediglich aus Lichtverhältnissen – um mitgenommen zu werden als günstige Effekte. Zuzeiten hat man einen Gully von Las Vegas bewohnt. Das erscheint eher gewöhnlich, insofern Marlene D. noch immer „auf dem Dach des Flamingo Hotels Leberwurst anbaut“.
Gert tanzt an der Stange, so grazil. „Man sieht die Himmelspforte, dann wird man doch runter gestoßen“, weiß er aus peinlicher Erfahrung. Seine Unterwäsche gibt Anlass zu Erörterungen. Glück ist: in Frauenkleidern Traktor fahren.
Gert äußert seinen Kinderwunsch, er wähnt sich schon in anderen Umständen. Die verdanken sich einem Toaster. Cora zweifelt die Umstände an. Trance Gender, wie gesagt.
Irm Hermann und Ingrid Caven geraten aus Fassbinders Nachlass in das Spiel mit Anspielungen. „Ich glaube nicht mehr an das Glück und ich verschwinde Stück für Stück“, singt Gert. Seine Melancholie reißt das Publikum von den Stühlen. Das muss man gesehen haben.
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„Zeit ist ein Arschloch!“ von und mit Cora Frost und Gert Thumser - Foto (C) Jamal Tuschick
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Bewertung:
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Jamal Tuschick - 5. September 2013 ID 7118
Weitere Infos siehe auch: http://www.ballhausost.de
Post an Jamal Tuschick
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