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Premierenkritik

23. November 2013 - Staatsschauspiel Dresden

GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD



Geschichten aus dem Wiener Wald am Staatsschauspiel Dresden - Foto (C) Matthias Horn


Wo die Donau am dreckigsten ist

Ein Vorspiel am Theater-Foyer: Beifällig lächelt die Premieren-Schickeria, als Intendant Wilfried Schulz jenen Horváth-Satz von der Unendlichkeit der Dummheit zitiert. Die Dummen, das sind immer die anderen.

Ansonsten spricht Schulz einiges Streitbare. Wenn es denn „wichtige Regisseure“ gibt - wer sind dann die Unwichtigen? Und was unterscheidet eine „Frauen-Inszenierung“ vom Männertheater?

Derart verunsichert, nehme ich meinen Platz neben der Souffleuse ein, die allmächtige Theaterkasse hat es so gewollt. Prompt wird jene gefragt, ob sie denn die Souffleuse wäre. Das fängt ja gut an.

Zum Glück ist es droben auf der Bühne um einiges gehaltvoller.
So eine Veranlagung ist kostspielig, weiß die nymphomane Witwe Valerie (Rosa Enskat wieder in einer Prachtrolle), aber die Witwenrente reicht schon für den Stenz Alfred. Jener, wunderbar schmierig von André Kaczmarczyk gespielt, wird der unschuldige Katalysator für den folgenden Prozess sein, zumindest sieht er es so.

Der Mariannenplatz ist grau, soviel Elend ist da … Doch dem Marianndl bleibt nicht viel übrig, als den Nachbarsfleischer zu heiraten. Der Herr Vater Zauberkönig, Spielwarenhändler mit angestellter Tochter, will es so. Ihr schwant, dass das keine gute Idee ist, und Mensch (?) Alfred hat so ein leichtes Spiel am Verlobungsabend. Wieder eine flachgelegt, diesmal nicht aus materieller Notwendigkeit, sondern aus reinem Spaß. Doch jene klammert sich an ihn, sieht in ihm den Retter vor einer freudlosen Zukunft mit dem Mauler für Arme, dem Fleischhauer von nebenan. Und da er eben nach Selbsteinschätzung „ein schwacher Mensch ist“, nimmt ein anderes Verhängnis seinen Lauf.

Zuvor bekommen wir noch zu hören, dass mit dem Ende der finanziellen Abhängigkeit der Frau vom Manne der Bolschewismus begänne (ich darf ergänzen, mit dem Ende jedweder Art von Abhängigkeit finge er dann endlich an) und dass man Frauen nicht verwöhnen dürfe. Mach ich auch nicht, zumindest nicht emotional.

Fleischer Oskar (ein dämonenhafter anständiger Kleinbürger Christian Erdmann, der es sogar schafft, manchmal Mitleid zu erwecken) sieht seine Braut vor allem als Gelenkpuppe, die man exakt einstellen kann.

„Zur Ausspanne“ könnte das Lokal heißen, in dem das Folgende stattfindet. Alfred gewinnt klar im Gesangsduell gegen Oskar, begeistert beim Stuhltanztheater, und während jener sich der Fotografie widmet, walzern sich Marianne und Alfred näher. Die drauf verkündete Verlobung mit dem Fleischer ist bald Makulatur, sie entsteigt der Donau und er besteigt sie. So einfach geht das.

Skandal, großer Skandal, zumal fast alle zum Vertuschen bereit sind, nur nicht die Protagonistin. Die will jetzt ein Kind vom Stenz, trotz Oskars Prophezeiung „Meiner Liebe entgehst Du nicht“.

Jener Stenz mahnt sie noch zur „vernünftigen Liebe“, kann sich aber nicht durchsetzen. Das Marianndl führt beim Lebenswalzer.

Aber auch das ist keine gute Idee gewesen, merken wir ein gutes (?) Jahr später. Mit Mann und Kleinkind in der feuchten Mietskaserne, da braucht es schon viel Schmetterlinge im Bauch, um das schön zu finden. Und die sind wohl verflogen, zumal das väterliche Sockenproblem nun auch auf den wilden Ehegatten übergegangen ist. Der ist von seiner neuen Rolle nur mäßig begeistert – der Kinderwagen trifft ihn wie ein Torpedo - und sinnt auf Ausstieg.

Was bei Horváth (mich) immer wieder begeistert, ist diese herzverkrampfende Tragik des Immer-schon-vorher-wissen-was-kommt, man ist den Figuren drei Züge voraus, das ist nur selten wirklich angenehm. Und so weiß man auch, dass der Flirt des Fleischergesellenzombies (Benjamin Pauquet hier so dämonisch wie in der Rolle des strammdeutschen Studenten Erich) mit dem Fräulein Erna nicht vegetarisch endet. Zuvor agitiert jener noch seinen Herrn und Meister: Frauen hätten prinzipiell keine Seele und wären an den entscheidenden Stellen alle gleich. Dass das beim Genderbeauftragten durchging? Noch ein Skandal.

Marianne sucht derweil ihr Heil im Glauben. Was Gott wohl noch alles mit ihr geplant hat? Nicht viel Schönes dabei, wir ahnen es.

Kindsvater Alfred betätigt sich emanzipatorisch, erleichtert sie um ihr Balg und verschafft ihr eine Stelle. Im Strip-Lokal. Von irgendwas muss er ja leben.

Miniaturen aus der alltäglichen Schreckenswelt des Kleinbürgertums werden nur mühsam mit einem Walzer-Lalalala übersungen. Dann ist man in der Wachau, es droht idyllisch zu werden, die wunderbar ironisch angelegte kindliche Erzählerin (eine großartige Philine Menzel, geschätzte acht Jahre alt) singt a Liedl.

Falco tritt auf. Ein Amerikaner in Wien. Die ganze Gesellschaft ist sturzbesoffen wie Puntila, und jetzt geht es ins Maxim, dort wird es schnell intim…

Herr Rittmeister (im Kleine-Leute-Viertel einer der Honoratioren) haben in einem Anfall von Gutmenschentum einen Plan, Versöhnung der verstoßenen Tochter mit Vater Zauberkönig durch Konfrontation mit dem Elend, in das sie geraten ist. Thomas Eisen gibt jenem – nicht nur dank passender Herkunft – eine Grandezza, die so gar nichts vom Kameraden Schnürschuh hat, auch wenn die Hose immer offen steht. Bravo.

Dass jene Versöhnung scheitert, liegt daran, dass der Papa kein Papa ist, auch kein Mensch, höchstens ein Vieh. Unter den vielen Widerlingen auf der Bühne ist Torsten Ranft der (Zauber-) König, die unbestritten fetteste Ratte im Revier. Nochmal Bravo.

Zuvor muss Marianne noch einen Striptease abliefern, der hier am Theater als Kunst durchgeht, aber auch in jedem einschlägigen Etablissement für Begeisterungsstürme sorgen würde. Doch dies ist beileibe nicht die Kernkompetenz von Yohanna Schwertfeger, diesen Schweinkram macht sie mit links, aber wenn sie ihre großen Augen fragend auf die böse Welt um sie herum richtet, könnte man weinen vor Mitleid und Scham. Bravo. Bravo. Bravo.

Das ödipale Problem mal variiert: Der Vater baggert an der Tochter, bis er sie erkennt (nicht im biblischen Sinne). Dann ist seine Empörung groß, wie kann sie ihm das nur antun. Der Wienerwald hat sicher wenig Gerechte, Selbstgerechte hat er genug.

„Scham muss man sich leisten können“, diese einfache Wahrheit begreift er nicht. Nix mit Versöhnung.

Und dann auch noch das, wofür Marianne ins Zuchthaus muss: Ein verschmähter Freier schiebt ihr seine Brieftasche unter.

Schwenk aufs Land: Die diabolische (Ur-) Großmutter des Alfred sorgt für das Ableben des kleinen Leopold, ihre ängstliche Tochter kann nichts entgegensetzen. Hannelore Koch in einer schizophrenen Doppel-Rolle, selten sah ich sie besser.

Zurück im achten Bezirk, die kleine Straße in unserem Viertel, dort wo das Grauen beheimatet ist (frei nach Peter Alexander). Abgründe tun sich auf, wenn man mal richtig in die Frau hineinleuchtet, finden die frischen Freunde Oskar und Alfred. Das kann ich nur bedingt bestätigen.

„Kind kein Hindernis“, wie es in diversen Annoncen heißt, trifft hier nicht zu. Das Balg – von dessem Ableben man noch nicht weiß – steht den geordneten Verhältnissen im Weg. Also beschränkt man sich vorerst auf das Machbare, wie bei den Koalitionsverhandlungen.

Jetzt wird versöhnt: Die Witwe kriegt ihren Stenz zurück und ein Vater seine gefallene Tochter. Der entwickelt sogar eine gewisse Vorfreude auf die Rolle als Großpapa. Alles wird gut?

Aber der Ausflug der Gesellschaft aufs Land, zum Enkelchen, endet in einer Katastrophe.

Nun ist Marianne reif für Oskar. Gebrochene Flügel, gefangenes Vögelchen. Sie wird wieder beringt. Und Oskar macht ein paar Fotos. Heutzutage stünden sie sicher gleich auf facebook. Und dazu „Marianne ist jetzt in einer Beziehung mit Oskar“, ihr Kennwort hat er sicher schon.

Ein Walzer zum Schluss, doch das Klavier versinkt vor Scham im Boden. Schulterzucken beim Pianisten (Sven Kaiser wie Benjamin Rietz nicht nur musikalisch, sondern auch in den Kleidchen ein Genuss). Vorhang.

Es folgt: Eine Publikumsbeschimpfung des Berichterstatters. Wenn man es nicht schafft, dieses großartige Regieteam um Barbara Bürk zweimal auf die Bühne zu holen, ist man dem Abend intellektuell nicht gewachsen. So.

Ödön von Horváth, dessen irrwitziger Tod mit nur 37 Jahren für mich einer der schlüssigsten Beweise dafür ist, dass es keinen Gott gibt (und wenn doch, dann keinen guten), hat in seinem kurzen Leben viele Meisterwerke geschaffen. Doch Geschichten aus dem Wiener Wald gebührt die Krone.

Die Dresdner Inszenierung wird diesem Fakt vollkommen gerecht, sie gibt dem Edelstein die passende Fassung. Man muss es gesehen haben.




Geschichten aus dem Wiener Wald am Staatsschauspiel Dresden - Foto (C) Matthias Horn



Bewertung:    


Sandro Zimmermann - 24. November 2013
ID 7396
GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD (Schauspielhaus, 23.11.2013)
Regie: Barbara Bürk
Bühne: Anke Grot
Kostüm: Irène Favre de Lucascaz
Musik: Sven Kaiser
Licht: Jürgen Borsdorf
Dramaturgie: Julia Weinreich
Besetzung:
Marianne ... Yohanna Schwertfeger
Valerie ... Rosa Enskat
Mutter / Großmutter ... Hannelore Koch
Oskar / Amerikaner ... Christian Erdmann
Alfred ... André Kaczmarczyk
Erich / Havlitschek ... Benjamin Pauquet
Zauberkönig ... Torsten Ranft
Rittmeister ... Thomas Eisen
Kind ... Philine Menzel / Alina Langosch
Ein Zwergpudel ... Kenia
Klavier: Sven Kaiser, Benjamin Rietz
Premiere war am 23. November 2013
Weitere Termine: 29. 11., 18. + 23. 12. 2013 / 5. + 10. 1. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de


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