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Premierenkritik

21. März 2014 - Kampnagel Hamburg

DER REIZENDE REIGEN

von Werner Schwab / bearbeitet von Kathrin Mayr



Gespielt und gepriesen, verschmäht und verboten. Das Stück Der Reigen, von Arthur Schnitzler 1903 in Wien geschrieben, hat eine bewegte Aufführungsgeschichte. Kritiker Alfred Kerr schrieb nach der lang ersehnten Uraufführung 1920 in Berlin: „…ein reizendes Werk, - und es wird annehmbar gespielt.“ Trotz gewonnenem Prozess, der anschließend gegen die Theatermacher angestrengt wurde, lastete der Ruf der Obszönität weiterhin auf dem „Saustück“, und Schnitzler wurde als „Pornograph“ und „jüdischer Schweineliterat“ verfemt. Sichtlich entnervt bat er 1922 den S. Fischer Verlag, der die Aufführungsrechte besaß, das Stück für weitere Aufführungen nicht mehr frei zu geben. Und der setzte dieses Gebot tatsächlich bis 1996 durch. Man musste in die Schweiz fahren, die sich bis in die 1990er Jahr noch eine eigene Vorstellung von Urheberrechten und der Zahlung von Tantiemen vorbehielten, oder nach Frankreich, wo Max Ophüls von Schnitzlers Übersetzerin die Filmrechte erworben hatte.

Nach dem Film war kein Halten mehr, Bearbeitungen des Stoffs schossen wie Pilze aus dem Boden. Den Reigen der Schnitzlereien eröffnete 1951 Helmut Qualtinger. Reigen 51, Reigen-Express, Das Liebeskarussell, Love Circles, La Ronde, Round2, etc. etc. Was sich nur halbwegs weit genug von Schnitzlers Reigen entfernte, hatte die Chance nicht verboten zu werden. Das dachte sich sicher auch Anfang der 1990er Jahre der Österreicher Werner Schwab, der bis dato als Fäkalien-Dramatiker reüssiert hatte. Es ließe sich hier wieder sein beliebtes Zitat vom in die Welt gevögelt und nicht fliegen können anbringen, aber wie er selbst schon sagte: „Für Sex interessiere ich mich sowieso kaum, das ist ein hoffnungslos überschätztes Thema.“ Also reizend oder aufreizend, das schien nicht so sehr der Tenor von Schwabs Bearbeitung zu sein, obwohl er sie mit vollem Stücktitel Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler genannt hat.

*

Zu einer Uraufführung des Stücks zu Lebzeiten Schwabs kam es leider nicht mehr. Die Erben Schnitzlers und der Verlag zeigten sich im Falle des Reizenden Reigens einmal konsequent uneinsichtig. Hier schien den Autor die Geschichte seiner Stückvorlage tatsächlich einzuholen, um sich zu wiederholen. Oder um sich ihr Recht zurück zu holen, ein Privatissimum zu bleiben. Das bedeutete ergo wie zu Schnitzlers Zeiten eine Uraufführung als Privatvorstellung 1995 in Zürich. Heute kaum noch vorstellbar. Schnitzlers Rechte am Werk sind seit langem erloschen. Der Reigen kann als gemein und frei und bearbeitbar von wem auch immer gelten. Von diesem Recht wird in Österreich zumindest an kleinen Theatern reger Gebrauch gemacht. In Hamburg hat sich nun die junge Regisseurin Kathrin Mayr Werner Schwabs Stück Der reizenden Reigen als Diplominszenierung ausgesucht...

Die Regisseurin, eine Absolventin der Theaterakademie Hamburg, inszeniert nicht zum ersten Mal ein Stück eines österreichischen Dramatikers. Neben Regiearbeiten zu Heiner Müller und einer Assistenz bei Christoph Schlingensief hat sie auch mit der österreichischen Autorin Natascha Gangl und dem in diesem Jahr nach Mülheim eingeladenen Grazer Ferdinand Schmalz zusammengearbeitet. Das Spezielle der Sprache ist ihr also nicht fremd. Eine bildliche Sprache, die Kathrin Mayr begeistert, da die Figuren, insbesondere bei Werner Schwab, sich aus ihr heraus erzählen. Schwab hatte Schnitzlers Skandalstück, das erotischer Liebesreigen und Todestanz zugleich ist, als Abfolge von immer gleichen Automatismen zwischen den Geschlechtern dargestellt. Die Verlogenheit der Gesellschaft, um die es Schnitzler ging, treibt er bis ins Absurde, entlarvt sie als anachronistische Witze der blanken Geschlechtlichkeit. Es wäre demnach nicht falsch, Schwabs Regieanweisung „Alle männlichen Figuren haben abschraubbare Geschlechtsteile. Alle weiblichen Figuren haben austauschbare Muttern.“ ganz mechanisch zu folgen.

Der naheliegenden Dildomanie erliegt Kathrin Mayr nicht. Den männlichen Protagonisten verbleibt lediglich der klar gekennzeichnete Hosenschlitz. Als Sexspielzeuge müssen hier Gummistiefel, Gummihöschen, Strumpfbänder, Kofferband zum Fesseln und eine zum Aufblasen von Gummiboten benötigte sogenannte Schildkröte herhalten. Zum Teil sind das Anspielungen auf Schwabs derb lebensphilosophierenden Text. Besagtes Gummiboot kommt dann auch noch zum Einsatz. In Seenot gerät die Inszenierung dadurch aber nicht. Es sind mehr die Darsteller, die sich schlingernd, verrenkend, sich und die Worte Pirouetten drehen lassend mit dem Text in den Clinch gehen. Geschlechterkampf und Geschlechterkrampf beim Ausloten von Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen. Auf einer Art Showtreppe bewegen sich die Figuren zunächst noch eher wie mechanische Puppen einer Spieldose, jede für sich zu den durch die Pling-Plang-Klänge des Keyborders Frank Henle verfremdeten Popsongs, bis sich die Zweierkonstellationen des Reigens bilden und wieder trennen.

Irene Benedict, Solveig Krebs, André Lassen, Meike Schmidt und Herbert Schöberl, zum Teil selbst noch im Studium, meistern das Spiel in immer wechselnden Rollen und Geschlechtern ganz hervorragend. Ob als Hure, der der kleine Angestellte seine Macht nur in der Verweigerung des Lohnes zeigen kann, als Friseuse, die ihn später einseift und dann doch der materiellen wie sexuellen Abhängigkeit zum Hausherrn erliegt, als Mann, der trotz Schwadronieren über den Ernst des Lebens und seine Ehegroßerfahrungen am Ende seiner junge Frau nichts zu bieten hat und sich seine Bestätigung bei seiner untergebenen Sekretärin holt. Die Rollen scheinen klar verteilt und doch nicht mehr wirklich sicher. Dichter, Schauspielerin und Nationalratsabgeordneter komplettieren den Reigen der Eitelkeiten. Hier hatte schon Schnitzler sehr viel Persönliches eingebracht. Ein Straßenbahnschaffner namens Nestory (eine Verballhornung des österreichischen Nationaldichters Nestroy) fühlt sich als großer Dichter berufen und wird von der großen Diva doch nur zum Fickhansel degradiert. Sie attestiert ihm gallig Sprechblasenentzündung und möchte lieber ihren Arsch verdichtet haben.

Kathrin Mayr lässt nichts aus, das „unerhörte“ Schwabisch ins rechte Bild zu setzen, was ihre Schauspieler mitunter zu akrobatischer Körpersprache zwingt. Und sich durchaus auch mal in einem ganz sprachlos pantomischen Haschen mit Musikbegleitung ausdrückt. Im Großen und Ganzen ein derber Spaß und doch auch eine hintersinnig schwarzhumorige Komödie. Ein Spiel der sich überschlagenden Worte, bis es Schaum wie Schlagoberst regnet und alles in einer apokalyptisch vielstimmigen Schaumschlacht versinkt. Ein Abbruch mit abrupter Schwarzblende als Ausbruch aus dem potenziellen „Potenzelend“ des immerwährend sexuellen Reigens, an dessen Ende ein hoffnungsvoller Song der Band Ton Steine Scherben Schritt für Schritt das Paradies verheißt. Ein Traum wohlgemerkt. Oder „Einmal im Leben einen guten Traum haben“, wie es bei Schwab heißt.




Werner Schwabs Reizender Reigen auf Kampnagel - Foto (C) Fabian Wendling



Bewertung:    

Stefan Bock - 23. März 2014
ID 7697
DER REIZENDE REIGEN (Kampnagel Hamburg, 21.03.2014)
Regie: Kathrin Mayr
Bühne: Fabian Wendling
Kostüm: Judith Förster
Musik: Janosch Henle
Kostümassistenz: Anna Thoennes
Mit: Irene Benedict, Solveig Krebs, André Lassen, Meike Schmidt und Herbert Schöberl
Premiere war am 21. März 2014
im Rahmen von FLUCHTLINIEN 2014, ABSCHLUSSARBEITEN DER THEATERAKADEMIE HAMBURG


Weitere Infos siehe auch: http.//www.kampnagel.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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