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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Lenski küsst Onegin

JEWGENI ONEGIN-Premiere an der Komischen Oper Berlin

Im Brandenburgischen auf grüner Wiese nahe eines Baumarktes, von dem die Leuchtschriften kyrillisch "Leto", also Sommer, oder "Sima", also Winter, auf den freilichtkinostuhlbesetzten Platz herabverkünden, hat sich jede Menge Volks versammelt. Es ist Erntezeit, vielleicht ein Spargelstechen, und so könnten diese Volksvertreter eigentlich nur in das Land bestellte Erntehelfer, also Weißrussen und Polen oder Langzeitarbeitslose aus dem deutschen Ostgau sein. Sie sitzen oder gehen auf und zwischen all den Stühlen und sind immerzu, auch später dann, präsent, selbst wenn sie augenblicklich nichts zu ernten und zu singen haben. Die Sozialschere wird erst in dem Moment ersichtlich, als die jugendlich agierenden Onegin, Lenski, Olga und Tatjana diesen kaltschnäuzigen Bühnenraum (von Hartmut Meyer) in cool-trendigen Klamöttelchen (von Mechthild Seipel) in Besitz zu nehmen wagen, sich ins Volk ergießen und die Schose - eine Landparty scheint mir im Gange - derartig beginnt. Man durfte es nicht übersehen, wir sind hier und heute, und das Alles hat mit 1878, als Tschaikowski den Onegin komponierte, nichts, rein überhaupt nichts mehr zu tun.

Diese Premiere (inszeniert von Andreas Homoki und dirigiert von Kirill Petrenko) war ja überfällig! Dass es endlich doch noch zum Zusammentreffen beider - denn Homoki und Petrenko sind das künstlerische Leitungsteam an der Berliner Komischen Oper; und sie haben das Erscheinungsbild dieses durch Walter Felsenstein, Joachim Herz und Harry Kupfer handschriftlich geprägten Hauses in den letzten drei vier Jahren, angefangen mit der längst schon wieder abgesetzten burschikosen und die DDR verarschenden Verkauften Braut, gewalttätig modifiziert und quasi über Bord geworfen - hinsichtlich des deutsch-russischen Gegenstandes ihrer Wunschwahl kommen würde: Resultat der allerschönsten Prophetie.

Chor und Orchester zählen mittlerweile zu den besten Klangkörpern der Stadt. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass deren Chef kontinuierlich, um nicht gar zu sagen oft - ein Fremdwort für die meisten anderen hoch resp. viel zu hoch bezahlten Dirigentenstars in/aus Berlin - mit seinen Leuten probt und arbeitet, was selbstverständlich Früchte trägt. Der Streicherklang zum Beispiel kommt sehr weich und über alle Maßen satt daher, die Expressiva wirken angespannt, mitunter hitzig, doch das Blech bleibt gleichsam makellos und lupenrein.

Sinéad Mulhern hat die Rolle der in diesem Fall mehr unterbelichteten Tatjana ziemlich kurzfristig (für die erkrankte Emma Bell) mit helllichtig betörendem Sopran gemeistert. Ihr zur Seite auch die andern adäquat besetzten Frauenrollen der Larina (Gertrud Ottenthal), der Olga (Hilke Andersen) und der Filipejwna (Diane Pilcher).

Dass die fast schon legendäre Todes-Polonaise Peter Konwitschnys aus seiner nicht minder legendären Leipziger Inszenierung aus den 90ern - Onegin tanzte mit dem Leichnam Lenskis - nicht zu toppen wäre, war Homoki klar. Und dennoch ist ihm, sichtlich nebenbei, ein nachhaltig und den ONEGIN letzten Endes doch dann mehr als Schwulenoper dekodierendes Szenario (Tschaikowski war, man weiß es, homosexuell) gelungen. So:

Nachdem dann Lenski seinen Jugendfreund Onegin, der ihm freilich bloß aus Jux und Dallerei das Liebchen Olga auszuspannen trachtet, zum Duell gefordert hat, bereut er diesen voreiligen Schritt umgehend. Er bemächtigt sich Onegins körperlich, er küsst ihn, er gesteht ihm also seine wahre Liebesneigung - woraufhin der einseitig Be-Liebte angewidert seinen Mund verzerrt und sich den ihn "beschmutzt" habenden Lenskispeichel von den Lippen wischt; Lenski verweigerte dem Onegin durch seinen Kuss das "männliche" Duell, und er erschießt sich selbst. Onegin schockt, ergreift den Trommelcolt und spielt mit ihm Russischroulette... Das Alles zeichnen seine beiden Hauptakteure (Gabriel Suovanen und Matthias Klink) ergreifend und erschütternd, dass es einem schier das Blut hätte gefrieren lassen können!

Gabriel Suovanen, der umherschwänzelnde und die Frauen wie die Männer sodurch immer kirrer machende Onegin dieses Abends, ist mir sowieso seit seinem Don Giovanni vor zwei Jahren als das schönste und das geilste Menschentier am Hause in der Behrenstraße hormonell bewusst: was für ein Mann! was für ein implizierter Wunsch!! Sein ungestümes Schauspielern steht seinem stimmlichen Vermögen - dieses Timbre lässt vielleicht an Hermann Prey erinnern - überhaupt nicht nach. Auch James Creswell (der etwas überzogen alterslos, ja jungenhaft gezeichnete Gremin in dieser Inszenierung) sollte schon seiner unglaublichen Sonorität des Basses wegen löbliche Erwähnung finden.

Jubel für Petrenko!

Buhgeblöke für Homoki - doch das macht ja nix; man hat sich längst an diese Art der Unmutsäußerung von passioniertesten Premierengängern aus Berlin gewöhnt, die Herren scheinen irgendwie noch minderartiger beschränkt als anderswo.
Andre Sokolowski - 23. Mai 2005
ID 1895
JEWGENI ONEGIN (Komische Oper Berlin, 22.05.2005)
Musikalische Leitung... Kirill Petrenko
Inszenierung... Andreas Homoki
Bühnenbild... Hartmut Meyer
Kostüme... Mechthild Seipel
Chöre... Matthias Böhm
Lichtgestaltung... Franck Evin
Larina... Gertrud Ottenthal
Tatjana... Sinéad Mulhern
Olga... Hilke Andersen
Filipjewna... Diane Pilcher
Jewgeni Onegin... Gabriel Suovanen
Lenski... Matthias Klink
Fürst Gremin... James Creswell
Saretzki... Tobias Hagge
Triquet... Christoph Späth
Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 22. Mai 2005


Weitere Infos siehe auch: http://www.komische-oper-berlin.de/



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