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Besprechung


18. Oktober 2013 - Gerhart Hauptmann-Theater

YVONNE, PRINZESSIN VON BURGUND




Das Schweigen des Lamms macht Angst

Der hiesige Intendanten-Ringelrein bescherte auch dem kleinen Theater im fernen sächsischen Osten eine neue Schauspielleitung: Dorotty Szalma, bislang als freie Regisseurin vor allem in Deutschland und Ungarn unterwegs, hat nun das Heft in der Hand und die Reitstiefel an, wie die Saisonbroschüre zeigt.

Sich mit einem weithin unbekannten Stück eines ebenso unbekannten polnischen Dramatikers, einer Groteske gar, zum Antritt vorzustellen, spricht für Mut, Coolness, vielleicht auch für eine Falscheinschätzung des hiesigen Publikums. Kein Hauptmann, kein deutscher Klassiker, keine Weltliteratur, kein Stück mit Regionalbezug, einfach ein Werk über das Leben und die Menschen darin. Ich zolle Vorschuss-Respekt.

Und es ist – im Nachgang betrachtet - unbedingt zu wünschen, dass diese Inszenierung eine Weile trägt und auch in Görlitz und anderswo ein Wohlgefallen findet. Verdient hat sie es allemal.

In Zittau bin ich befangen, ich geb es zu. Hier war ich als Kind, leider viel zu selten, und das Haus strömt – erst recht nach der Sanierung – ein warmes Gefühl von Heimat aus, von dort, wo man immer viel zu selten ist (meine Mutter wird das bestätigen). Eine scharfe Bar hat man sich ins hübsche Foyer gebaut, wo ich auch tatsächlich einige Menschen entdecke, die die Dreißig noch nicht überschritten haben, selbst im zahlenden Publikum.

Clever entzieht man die letzten fünf Reihen mit spanischen Wänden dem Saal. Es wirkt gleich viel voller, und immerhin sind fast 150 Menschen erschienen, die an einem Oktoberfreitagabend Lust auf Theater haben. Einer der besseren Tage sicher.

Ja, das Haus ist meist zu groß für Zittau, oder nein, Zittau ist meist zu klein für dieses Haus. Doch man bemüht sich, Liberec liegt genauso im Visier wie Bogatynia, wie ich beim Faust im letzten Jahr erfreut bemerken durfte. Nur so kann es gehen.

Genug der Kulturpolitik, wir reden jetzt von Kunst.


* * *


Der Saisonauftakt ist ein Tritt in die Eier, das ist doch schon mal eine Botschaft. Danach ein disharmonischer Hofstaat im Takt, nein, lieber Nachtkritiker, die können das sicher besser, waren aber absichtlich unkoordiniert. Eine Atmosphäre wie früher bei der Kampfdemonstration, man winkt und tattert ins Publikum, das cool mit Beifall reagiert.

Prinz Philipp (Stefan Sieh mit der in Summe stärksten Leistung des Abends) ist gelangweilt vom höfischen Zeremoniell. Doch er beginnt weder zu saufen noch geht er zur RAF, sondern er macht das hässliche Entlein zur Verlobten. Provokation pur.
Das königliche Elternpaar is not amused, aber käme aus der Nummer nur mit einem Skandal wieder raus, bleibt also aus Gründen der Staatsräson drin. Wir haben nun eine Tochter.

Das Stück ist ein Kleinod, ein Lehrstück nach Brecht fast, auch wenn es sich angeblich an Büchner orientiert. Es stellt sehr gemeine Fragen, und es entlarvt gnadenlos, wie die Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. Im (sehr guten) Programmheft sind die wesentlichen Zitate als Schriftband enthalten, es lohnt, sehr langsam zu lesen und zwischendurch auch mal nachzudenken.

Da ist also diese Yvonne, die von der Natur nicht eben reichlich bedacht wurde und außerdem störrisch schweigt. „Mit der könnt ihr machen was ihr wollt“, weiß der Volksmund, aber so einfach ist das nicht. Wer sich auf sie einlässt, scheint verloren.
Eine böse Fee, eine Hexe, eine dunkle Verführerin-wider-Willen? Von allem etwas, doch das reicht bei weitem nicht. „Die Beunruhigung“ ist sie für die normale Gesellschaft, der Punk, der vor dem Edeka sitzt und entgegen aller Logik glücklich ist.

„Wer sich nicht bewegt, ist nicht zu fassen“, dichtete Herr Regener mal. Und wer den Mund hält, ist nicht zu bekehren, setze ich hinzu.

Da ist sie also einfach da bei Hofe, zufällig hineingeworfen in des Prinzen Menschenexperiment, und schweigt. Und guckt. Und die Mauern von Jericho beginnen zu wackeln.

Diese Rolle war die mit Abstand schwerste von allen. Es ist wirklich schade, dass Paula Schrötter sie nicht voll ausfüllte. Man sah Ansätze, aber man sah wenig Körperspiel (auch bewegungsloses). Hier ist Luft nach oben.

Zwischenzeitlich hat Yvonne ihre Nische fast gefunden, der Spott trifft jetzt eher den Prinzen, die potentiellen Schwiegereltern spielen mehr oder weniger erfolgreich heile Welt. Doch der Kammerherr (mit beeindruckender Intonation der Ex-Radebeuler Marc Schützenhofer die Nr. 1b des Abends) weiß, dass das nicht mehr lange gut geht und beginnt Fäden zu ziehen.

In einer Nebenrolle brilliert als Innozenz Thomas Werrlich, das ist jener Zeitgenosse, der sich exakt im Rahmen seiner (geglaubten) Möglichkeiten verliebt. „Fort!“ - Yvonne spricht ihr erstes Wort.

Der Prinz sehnt sich nun nach dem Tamerlan, eine wie Yvonne ist auf Dauer zu anstrengend. Die lässt sich ihren Stoizismus auch nicht durch demonstratives Fremdgehen mit Isa (Katinka Maché spielt jene so, dass man den Fehltritt völlig nachvollziehen kann) verderben. Die Schweigende muss weg, es wird der Tod durch das Schwert gewählt, wie Prinzen halt so sind. Das gelangweilte Jüngelchen fühlt sich auf einmal als Lancelot.

Ähnliche Gedanken bewegen den König, der zudem durch Yvonne permanent an eigene Jugendsünden erinnert wird. Ludwig Hollburg gibt ihn erst als Karikatur, wird dann aber immer stärker, bis er in seinem letzten großen Monolog mich fast zum Salutieren bringt. Ist halt so drin in mir.

Auch die Königin kommt über einen anderen Rechenweg (die eigenen Gedichte) zum gleichen Ergebnis: Yvonne muss weg. Damenhaft wählt sie Gift. Sabine Krug beginnt auf höherem Niveau, ist manchmal ein klein wenig zu hysterisch-klischeehaft, bringt insgesamt aber eine tolle Leistung.

Alle diese Mordpläne scheitern übrigens an den Ausführenden oder an den Umständen. Doch das ist nicht schlimm, denn der Kammerherr hat Plan Nr. 4, Ersticken an einer Fischgräte. Röchelnd verendet Yvonne unter der großen Schleppe, die sonst den Hofstaat ummantelt und hier als Tischtuch dient.

Am Ende knien alle nieder angesichts der teuren Toten, und der König braucht einen neuen schwarzen Anzug, der alte spannt am Bauch. Sonst ist eigentlich nicht viel passiert.

Ich habe wenig zu kritteln, ein paar Längen vielleicht, eine nicht optimale Führung der Titelfigur, aber sonst…?

Ein großartiger Start, Frau Szalma! Ganz großes Kompliment! Ich drück die Daumen für die nächsten Premieren und schau gern mal wieder vorbei.


PS: Eine dramaturgische Idee vielleicht noch? Wenn man die Yvonne schon so sehr (u.a. auf genau zwei Worte) reduziert, kann man doch auch eine Puppe nehmen, eine lebensgroße? In Dresden liegt bestimmt noch eine herum. Die heißt Mignon.




Yvonne, Prinzessin von Burgund am Gerhart Hauptmann-Theater Görlitz und Zittau | Bildquelle http://www.g-h-t.de


Bewertung:    



Sandro Zimmermann - 19. Oktober 2013
ID 7276
YVONNE, PORINZESSIN VON BURGUND (Großer Saal, Zittau |18.10.2013)
Regie: Dorotty Szalma
Ausstattung: Beate Voigt
Choreografie: Dan Pelleg , Marko E. Weigert
Dramaturgie: Stefanie Witzlsperger
Besetzung:
Yvonne ... Paula Schötter
König lgnaz ... LudwigHollburg
Königin Margarete ... Sabine Krug
Prinz Philipp ... Stefan Sieh
Kammerherr ... Marc Schützenhofer
Isa ... Katinka Maché
Zyrill ... Stephan Bestier
Zyprian ... David Pawlak
Erste Tante ... Renate Schneider
Zweite Tante ... Katja Schreier
Innozenz ... Thomas Werrlich
Bettler ... Kerstin Slawek
Premiere war am 12. Oktober 2013
Weitere Termine: 23., 27. 10. / 14. 12. 2013

Weitere Infos siehe auch: http://www.g-h-t.de/


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