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Besprechung

14. Dezember 2013 - Theater unterm Dach

PATENTÖCHTER

Theaterfassung des gleichnamigen Buches von Corinna Ponto und Julia Albrecht


Patentöchter im Theater unterm Dach | Bildquelle http://www.theateruntermdach-berlin.de/



"Wir haben in einer Situation, in der Bundesanwaltschaft und Staatsschutz zum Massaker an den Gefangenen ausgeholt haben, nichts für lange Erklärungen übrig."
(Aus einem Bekennerschreiben zur Ermordung von Jürgen Ponto)



* * *


Das sind keine ungebetenen Gäste. Patentochter Susanne wurde von ihren Eltern angekündigt, sie wird Freunde mitbringen. Soviel unkomplizierte Geselligkeit ist ganz natürlich in ihrem Alter. Man erwartet junge Leute, die Köpfe noch in den Wolken. Hauptsache gewaschen. Später will man nach Südamerika fliegen, die Koffer sind schon gepackt. Susanne und ihre Freunde verspäten sich. Sie treffen dann mit Rosen und Pistolen ein. „Und der Haifisch, der hat Zähne“ – Onkel Jürgen sieht erst einmal nur die „reichlich verblühten Blumen“, er sucht eine Vase. Da die Gattin telefoniert.

Deutschland im Hochsommer 1977. Für die RAF ist Bankier Jürgen Ponto ein Repräsentant „des Schweinesystems“. Geplant ist seine Entführung, sie misslingt mit der Beteiligung von S.A., Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Auf der Gasse wartet Peter-Jürgen Boock im Fluchtauto.

In Oberursel fallen Schüsse mit gedämpftem Schall. Leise geht eine Ouvertüre zum deutschen Herbst über die Bühne der Geschichte. Auf der Theaterbühne unterm Dach wird die Geschichte aufgerollt. Nach einem Dialog zwischen Albrechtschwester Julia und Ponto-Tochter und Albrecht-Patentochter Corinna – Patentöchter. Die Bühnenfassung stammt von Mirko Böttcher.

Wie ernst war die Entführungsabsicht? Wollte man nicht einfach töten? Jürgen Ponto stirbt auf dem Weg in die Klinik, Patentochter Susanne Albrecht taucht ab. Sie wird mit Steckbrief gesucht. Ihr umflortes Gesicht bebildert die Republik, „was meinst du, wie das für mich war?“

„Ich war dreizehn, die kleine Schwester von Susanne.“


Julia Albrecht, inzwischen Juristin, Journalistin, Co-Autorin der Patentöchter. Damals geradezu verliebt in die große Schwester. Claudia Wiedemer spielt Julia unverlegen, zupackend. Sie rackert sich ab an der einst Bewunderten. Sie will verstehen. Begreifen. Kapieren. Wie viel RAF steckt in Susanne?

Corinna Ponto möchte manches richtig stellen. Sie betont: „Ich war nicht dabei.“ Corinna lebte 1977 in London, für sie war der 30. Juli Vortag einer Reise und Schlusstag einer Affäre. Sie erwähnt das „argentinische Temperament“ des ausrangierten Latin Lover. Silke Buchholz spielt eine höhere Tochter, die auf ihre Fassung achtet. Sie spielt in einem enormen Mantel, als sei seit dem Attentat jeder Tag ein Abreisetag gewesen. Sie distanziert sich ständig mit operetten'dem Aufwand, während Julia kräftig ins Fleisch greift. Auch wenn es weh tut.

Von einem Tag auf den anderen ist sie nur noch „Schwester einer Terroristin“. Das Volk gärt. Lauter Scharfrichter wollen kurzen Prozess machen. „Unter Adolf hätte es das nicht gegeben.“

Warum nicht Sippenhaft, solange die eigene Familie nicht. Das Glück all derer, an denen der Kelch solch einer Susanne vorbeigegangen ist. Das Glück paar sich mit Verachtung. Apartheid in Deutschland für Albrechts. „Irgendwann begannen wir, das Fahndungsplakat auf der Litfaßsäule zu begrüßen: ‚Hallo Schwesterlein, wie geht’s? Hängst du da immer noch rum?’“

Auf der anderen Seite die Klammheimlichen mit ihrer Freude an den Verbrechen der anderen. In diesen Kreisen muss sich rechtfertigen, wer dem bewaffneten Befreiungskampf aus schierer Selbstermächtigung einer verschwindenden Minderheit nicht das Wort redet. Ich bin bereits sechzehn und lese den Eindimensionalen Mensch von Herbert Marcuse. Das Zauberwort heißt „repressive Toleranz“. Zwingt den Staat, sein wahres Gesicht zu zeigen. Reißt die Maske von der Fratze des Faschismus.

Claudia Wiedemer und Silke Buchholz spielen auch ihre Verwandten, zu Wort kommt so Ignes Ponto, die ihren Mann sterben sah. Auch Corinnas Mutter möchte Dinge richtig stellen und hinweisen auf Versagen des Bundeskriminalamtes. Ignes unterstellt den Mördern ihres Mannes Tötungsabsichten von vornherein. Dem BKA unterstellt sie anders-arge Absichten. Hundert Meter Akten seien geschreddert worden, zur Verschleierung von Ermittlungspannen. Corinna vermutet beim BKA keinen Aufklärungswillen, sobald es um Verstrickungen der DDR-Staatssicherheit mit der Roten Armee Fraktion geht.

Die prekäre Aktenlage wird auf der Bühne mit Papierschnee illustriert. Es werden Stühle neu gruppiert und Ventilatoren unter Strom gesetzt. Erst 1990 trifft Julia Susanne wieder. Die RAF-Aussteigerin war in der DDR untergekommen und aufgeflogen. Die neue Identität sah keine Schwester vor. Die Ältere verweigert der Jüngeren den Familienanschluss. Vor Gericht behauptet sie, Schlimmeres verhindert haben zu wollen mit ihrer türöffnenden Teilnahme an der gescheiterten Entführung. Sie sei begierig gewesen, Tote zu vermeiden. Julia identifiziert den Text als Entlastungsstrategie. Susanne Albrecht alias Ingrid Jäger tritt als Kronzeugin in Stammheim auf, Aufklärung erscheint inzwischen wichtiger als Bestrafung. Julia muss erkennen, dass ihre Schwester mit Geschick vorgeht. Sie spielt ihre Rolle in der RAF herunter. Kein besonderes Schuldgefühl treibt sie. Das kriegt auch Corinna mit, im Gerichtssaal hämen die Sympathisanten.

Claudia Wiedemer und Silke Buchholz spielen so zusammen, dass ihr Stück aus den Fugen der Zeit gerät. „Der Einbruch der Zeit in das Spiel“ (Carl Schmitt) verwandelt den Dialog der Patentöchter in ein Drama.



Bewertung:    

Jamal Tuschick - 15. Dezember 2013
ID 7465
PATENTÖCHTER (Theater unterm Dach, 14.12.2013)
Mit: Claudia Wiedemer und Silke Buchholz
Regie / Textfassung: Mirko Böttcher
Dramaturgie: Katja Kettner
Ausstattung: Anja Kreher
Musik: Michael Kessler
Produktion: Tine Elbel
Premiere war am 7. November 2013
Weitere Termine: 15. 12. 2013 / 16., 17., 30. + 31. 1. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.theateruntermdach-berlin.de


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